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Stadtsuperintendent Bernhard Seiger (r.) und Stadtdechant Robert Kleine.

Erinnerung an Pogromnacht von 1938: Stadtsuperintendent Seiger und Stadtdechant Kleine sprechen in der Synagoge

„Es ist eine Ehre, dass Sie uns, Stadtdechant Robert Kleine und mich, gebeten haben, heute zu diesem Anlass zu sprechen, übrigens bevor die Terrororganisation Hamas Israel vor einem Monat überfallen hat“, sagte Stadtsuperintendent Bernhard Seiger in der Synagoge an der Roonstraße bei der Feier zur Erinnerung an den 85. Jahrestag der Pogromnacht am 9. November 1938. „Heute sind wir nach 85 Jahren hier, um uns an die damaligen furchtbaren Ereignisse zu erinnern: zur Mahnung und zu Erinnerung. Aktuell gibt es mehr Anlass zur Mahnung denn je. Wir alle stehen unter dem Eindruck des schrecklichen und menschenverachtenden Terrorangriffs der Hamas auf Israel am Schabbat des 7. Oktober. Wir sind tief erschüttert über die barbarische Gewalt“, erklärte Kleine, der die gemeinsame Ansprache im Wechsel mit Seiger vortrug.

Der Stadtsuperintendent warf einen Blick auf die Geschichte der beiden großen christlichen Kirchen: „Wenn wir hier heute stehen und reden und mit Ihnen das Klagelied über die Vernichtung jüdischen Lebens in der Zeit des Nationalsozialismus teilen, wenn wir in Ehrfurcht schweigen, dann tun wir das voller Demut. Wir tun es im Wissen darum, dass die Kirchen über Jahrhunderte gegenüber den Menschen jüdischen Glaubens unermessliche Schuld auf sich geladen haben und mitverantwortlich sind für den jahrhundertelangen Antisemitismus und die Vertreibung und die Vernichtung von Juden.“ Seiger betonte, dass sich die evangelische Kirche entschlossen von den antijüdischen Schriften Martin Luthers distanziere und erinnerte an den Rheinischen Synodalbeschluss der Landeskirche. In ihm werde – abgegrenzt von jahrhundertelanger anderslautender Theologie – gesagt: „Die Kirche bezeugt die bleibende Erwählung des Gottesvolkes Israel.“ Der Stadtsuperintendent zitierte Dietrich Bonhoeffer: „Wer euch, das Volk Israel, antastet, der tastet seinen Augapfel an.“

Auch Kleine blickte zurück: „Papst Johannes Paul II. hat als erster Papst eine Synagoge, die in Rom, besucht und die Jüdinnen und Juden als unsere älteren Geschwister angesprochen. Und Papst Franziskus betonte am vergangenen Montag, der Dialog zwischen Judentum und Christentum sei kein interreligiöser, sondern vielmehr ein familiärer.“ Christen bräuchten das Judentum, um sich selbst besser zu verstehen. Beide religiösen Traditionen seien eng miteinander verbunden. Das Existenzrecht Israels sei deutsche Staatsräson. Deshalb, so Seiger, müsse es von den Kirchen klar und deutlich heißen: „Die christlichen Kirchen können nicht existieren, ohne klar an der Seite des Volkes Israel zu stehen und ohne ihre jüdischen Wurzeln zu achten!“

Klare Worte der Solidarität

Der Stadtsuperintendent und Stadtdechant Kleine beantworteten auch im Wechsel die selbst gestellte Frage, was man heute tun könne, um an der Seite der Jüdinnen und Juden zu stehen: Klare Worte der Solidarität, Teilnahme an Kundgebungen wie dem von den Kirchen initiierten Schweigegang, Bildungsarbeit der Kirchen, Bildungsreisen nach Israel mit Jugendgruppen, Fahrten zu Gedenkstätten wie Auschwitz und Buchenwald. Seiger fragte weiter: „Was kann die Grundlage sein, ethisch verantwortlich zu handeln? Die Angst vor der Konvention oder Strafe ist es letztlich nicht. Nur wer innerlich frei ist, wer einen inneren Kompass hat, kann moralisch handeln. Andere können nur Vorschriften befolgen.“ Seiger und Kleine schlossen ihre Ansprache mit einem Gebet: „Wir bitten dich für die Verschleppten, für die Verletzten, für die Trauernden, für die, die nicht wissen, ob sie den morgigen Tag noch erleben. Wir bitten für alle Jüdinnen und Juden, dass sie vor Angriffen und Hetze sicher sind und Unterstützung erfahren, die trägt. So treten wir mit der Not und der Bitte um Beistand vor unseren Schöpfer. Gott segne Israel! Shalom Israel!“

Zu Beginn der Gedenkveranstaltung hatte Dr. Michael Rado, Vorstandsmitglied der Synagogen-Gemeinde Köln, die 500 Gäste begrüßt: „Herzlichen willkommen, dass Sie da sind in einer Zeit, in der viele vermissen, dass andere da sind. Sie sind die Guten.“ Die Veranstaltung werde von der Polizei geschützt. „Das ist ein tolles Gefühl.“ 1938 sei die Polizei nicht da gewesen. Rado begrüßte insbesondere Oberbürgermeisterin Henriette Reker und nannte sie „Freundin des Hauses“. Beifall spendete das Auditorium Bernhard Seiger und Robert Kleine für die Organisation des Schweigegangs am Vorabend mit 3000 Teilnehmenden.

„Ganz besondere Gedenkkultur“

Der Synagogen-Vorstand lobte die Königin-Luisen-Schule für ihre „ganz besondere Gedenkkultur“. Als an der Schule Stolpersteine verlegt worden seien, hätten 500 Schülerinnen und Schüler teilgenommen. „Leuchtturmschule“ nannte Rado das Gymnasium, dessen Schüler an der Gedenkveranstaltung mit Wort- und Musikbeiträgen beteiligt waren. „Kämpfen Sie für unsere Demokratie“, appellierte Rado an die Anwesenden: „Sie brauchen sie, wie wir sie brauchen.“ Nathanael Liminski, Landesminister unter anderem für Medien und Chef der Staatskanzlei, erinnerte daran, dass unter den Nazis der Antisemitismus vom Staat gewollt worden sei. Es gebe in Nordrhein-Westfalen Menschen mit Wurzeln in Ländern, in denen die Vernichtung Israels Staatsräson sei. „Man kann nicht an 1938 denken, ohne an 2023 zu denken.“ Die Hamas habe ein Interesse daran, dass man sich an die 1400 toten Juden nicht mehr erinnere. Das erinnere an 1938, so der Minister. Liminski stellte klar: „Antisemitismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen.“

Eine demokratische Gesellschaft dürfe nicht hinnehmen, dass die Meinungsfreiheit ad absurdum geführt werde. Jüdisches Leben werde in der Mitte der Gesellschaft gelebt und das müsse selbstverständlich so bleiben. Politik, Staat und Zivilgesellschaft seien aufgefordert, konsequent gegen Antisemitismus vorzugehen. Der Minister kündigte die Verschärfung einschlägiger von Gesetzen an. Er lobte die Annäherungen zwischen Synagogen- und Moschee-Gemeinden. Es habe Besuche und Gegenbesuche gegeben. Und eine gemeinsame Erklärung der Landesregierung und vier muslimischen Religionsverbänden in Nordrhein-Westfalen, in der die Gräueltaten der Hamas uneingeschränkt verurteilt würden und in der es weiter heißt: „Wir werden nicht zulassen, dass die terroristischen Angriffe der Hamas auf unseren Straßen bejubelt oder auch nur relativiert werden.“

Die Erinnerung an das Menschheitsverbrechen der Nazis müsse aufrechterhalten werden, sagte Oberbürgermeisterin Henriette Reker. Das betrachte sie auch als persönlichen Auftrag. „Der Angriff der Hamas ist der größte Massenmord an Juden seit der Shoa. Ich nehme großen Anteil an der Verzweiflung derer, die Angehörige verloren haben oder um das Leben der Geiseln bangen. Auch hier im Raum.“ Es sei unerträglich, dass Kölns Partnerstadt Tel Aviv von Bomben bedroht sei. „Diese High-Tech-Stadt, von der wir soviel lernen.“ Eine Schande für Deutschland und Köln sei der Anstieg antisemitischer Straftaten seit dem 7. Oktober. „Ich wünsche mir, dass wir aus der Vergegenwärtigung der Shoa Kraft schöpfen für den Einsatz gegen Antisemitismus.“ Die Wahlerfolge der AfD bedrücken die Oberbürgermeisterin zutiefst, wie sie sagte. „Wir müssen uns den rechten Ideologien in den Weg stellen. Nie wieder ist heute und an jedem anderen Tag.“

„Zum Krieg gehört der Mut des Einzelnen, zum Frieden gehört der Mut beider“

Dr. Jürgen Wilhelm, Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, sei erschrocken über die Empathielosigkeit vieler angesichts des Terrorangriffs der Hamas. Aber man müsse leider feststellen: „Die Täter-Opfer-Umkehr ist durchschaubar und ekelhaft. Aber sie wirkt.“ Wilhelm beschwor die Gefahr der „Entdemokratisierung Europas“ angesichts der Wahlerfolge rechter Parteien auf dem Kontinent. „Die bieten vermeintliche attraktive einfache Lösungen an, die aber nur opportunistisch sind und Hirngespinste ohne Realisierungsmöglichkeit.“ Man finde bei diesen Parteien das gleiche Vokabular wie 1938. „Jeder Einzelne ist gefordert. Wenn man die Verantwortung an andere abgibt, wird man zum Mitläufer.“

In einem Land, das Roger Waters Bühnen biete und Hubert Aiwanger als stellvertretenden Ministerpräsidenten hinnehme, sei es „mit dem Bekenntnis zu den Juden nicht allzu weit her“. Und: „Wohin fließen die Gelder, die zur Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen im Gazastreifen geschickt werden?“

Wilhelm forderte mehr Bildung. Er bot Lehrern Fortbildungsveranstaltungen der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit an. „Antisemitismus muss endlich Pflichtfach in der Sekundarstufe II werden“, sagte er unter dem Applaus des Auditoriums. Wilhelm warf einen düsteren Blick auf die nahe Zukunft: „Es wird schreckliche Bilder aus dem Gazastreifen geben. Es wird diese Bilder geben, weil die Hamas diese Bilder will. Es gilt, stark zu sein. Wir stehen unverrückbar auf der Seite Israels. Unser Mitgefühl gilt den Opfern auf beiden Seiten.“ Innigster Wunsch sei ein friedliches Nebeneinander in der Region. „Zum Krieg gehört der Mut des Einzelnen, zum Frieden gehört der Mut beider.“

Text: Stefan Rahmann
Foto(s): Stefan Rahmann