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Yechiel Brukner, Rabbiner der Synagogen-Gemeinde Köln.

Novemberpogrome 1938: Gedenkfeier an der Kindergedenkstätte Löwenbrunnen

85 Jahre nach der Reichspogromnacht hat Dr. Rainer Lemaire viele Teilnehmende zu einer Gedenkstunde an der Kindergedenkstätte Löwenbrunnen begrüßt. Der achteckige Brunnen steht in unmittelbarer Nähe zum ehemaligen Areal des einstigen jüdischen Reform-Realgymnasiums Jawne. Insbesondere hieß der evangelische Schulreferent auf dem Erich-Klibansky-Platz Schülerinnen und Schüler des Schaurte-Gymnasiums und Schiller-Gymnasiums willkommen. Sie setzten die wichtige Tradition fort, in ihrer Schule beziehungsweise in Lernort-Workshops erarbeitete Beiträge über Biografien ermordeter und überlebender jüdischer Kinder und Jugendlicher vorzutragen.

Die Anwesenden, darunter Rabbiner Yechiel Brukner und Bürgermeisterin Brigitta von Bülow, setzten ein „Zeichen für die bleibende Aufgabe des Erinnerns, gegen Antisemitismus und jede Feindschaft Jüdinnen und Juden gegenüber“, so Lemaire. Am Löwenbrunnen wolle man die Erinnerung wachhalten an das, „was Jüdinnen und Juden hier in Köln, hier rund um die Synagoge Adass Jeschurun und an vielen anderen Orten 1938 angetan wurde“. Damit sei eine Spirale der Gewalt in Gang gesetzt worden, „die bis zur millionenfachen Ermordung von Jüdinnen und Juden führte“.

Anteilnahme, Verbundenheit und Solidarität

Ausdrücklich thematisierten Redebeiträge ebenso den heutigen Hass und Gewalt gegenüber Jüdinnen und Juden. Lemaire drückte stellvertretend „unser Entsetzen darüber aus, dass Jüdinnen und Juden in Israel vor einem Monat durch Terroristen der Hamas ermordet und verschleppt wurden“. In der Folge habe sich auch hierzulande wieder offen Judenfeindschaft und Judenhass gezeigt. „Den Menschen in Israel und den jüdischen Gemeinden in unserer Nachbarschaft sprechen wir unsere tief empfundene Anteilnahme, unsere Verbundenheit und unsere uneingeschränkte Solidarität aus.“

Desgleichen ging Bürgermeisterin Brigitta von Bülow (Grüne) in ihrer Ansprache auf die jüngste Entwicklung in Nahost ein. „Vor dem aktuellen Hintergrund des terroristischen Angriffs der Hamas auf die Menschen in Israel und den jetzt folgenden Auseinandersetzungen in Gaza haben wir heute eine ganz besondere Situation. In Köln, in Deutschland und in der ganzen Welt kommt es vermehrt zu antisemitischen Übergriffen, der Antisemitismus nimmt deutlich zu.“

Es lasse sich schwer begreifen, was in den Tagen um den 9. und 10. November 1938 in Deutschland geschehen sei, sagte von Bülow. „Zahlreiche jüdische Menschen wurden ermordet. Zehntausende jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger wurden ohne Grund verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt.“ Deutschlandweit seien über 1400 Synagogen, Tausende Geschäfte und Wohnungen, jüdische Friedhöfe und andere Einrichtungen zerstört worden. Nichts davon sei heimlich geschehen. „Auch bei uns in Köln sah jeder die brennenden Synagogen und erlebte die Angriffe auf jüdische Nachbarn und Bekannte mit“, meinte von Bülow. Fast alle Menschen hätten zugesehen – ohne zu widersprechen oder den Betroffenen zu helfen. Dem Jawne-Direktor Dr. Erich Klibanksy sei es noch 1939 gelungen, 130 seiner Schülerinnen und Schüler in vier Gruppen nach Großbritannien zu bringen.

Die Frage nach dem „Warum“

Für alle sei es sehr wichtig, zu erinnern und immer wieder die Frage nach dem „Warum“ zu stellen. Mit ihrer Teilnahme und ihren Beiträgen zur Gedenkstunde setzten die Schülerinnen und Schüler „ein wirkungsvolles Zeichen in die Stadtgesellschaft hinein“. Von Bülow dankte, „dass sich viele gesellschaftliche Gruppen und Politiker:innen in diesen Zeiten so deutlich gegen den bedrohlich zunehmenden Antisemitismus äußern“. Beispielsweise nannte sie den von den beiden großen Kirchen in Köln organisierten Schweigegang am Vorabend für die Opfer der Hamas in Israel. Auch der Stadtrat habe sich wiederholt gegen Antisemitismus positioniert. „Juden und Jüdinnen müssen wissen, dass sie nicht allein sind. Wir müssen alles dafür tun, dass sie sich in Deutschland sicher fühlen können.“

Eine zentrale Rolle in der bedeutenden Erinnerungskultur in Köln spiele neben dem städtischen NS-Dokumentationszentrum der Lern- und Gedenkort Jawne. Dieser widme „sich seit Jahren insbesondere dem Andenken der jüdischen Kinder aus unserer Stadt, die durch die Verbrechen der Nationalsozialisten um ihr Leben gebracht wurden“. Orte wie diese machten Geschichte lebendig und schafften direkte Begegnung. Laut von Bülow sei nichts so eindrücklich, wie die Beschäftigung mit den Lebensgeschichten auch der jüdischen Schüler und Schülerinnen und Lehrer und Lehrerinnen. Damals seien viel zu wenige Menschen für ihre verfolgten und bedrohten Mitbürger:innen eingetreten. Heute gelte es „mutig zu sein und einzutreten gegen jede Form von Antisemitismus, Rassismus und Menschenverachtung, gegen Hass und Gewalt – und für gesellschaftliche Vielfalt, unsere Demokratie und Menschenrechte“.

„Wir haben viele Fragen, aber kaum Antworten“

Sechstklässler und Sechstklässlerinnen des Gymnasiums Schaurtestraße in Köln-Deutz berichteten von ihrer Beschäftigung mit den Themen Nationalsozialismus und Judenverfolgung. „Umso trauriger“ sei man nun „über die Nachrichten aus Nahost. Wir haben viele Fragen, aber kaum Antworten“, formulierte ein Schüler. „Wir können nicht verstehen, dass jüdische Menschen Angst haben müssen in Deutschland.“ Man denke auch an die Kinder der Jawne, „die wie wir zur Schule gegangen sind“. Zudem appellierte die Gruppe an ein friedliches Zusammenleben von „Christen, Muslimen und Juden“.

Schülerinnen und Schüler des 10. Jahrgangs des Schiller-Gymnasium in Köln-Sülz informierten verbal wie mit Plakaten über gerettete Jawne-Besuchende und deren Erinnerungen an die Pogrome in Köln: Henny Franks, Henry Gruen (Heinz Grünebaum), Werner Lachs und Kurt/Kenneth Appel. „Als ich auf der Jawne war, kam die ,Kristallnacht‘ und die Synagoge nebenan stand in Flammen“, wurde aus Erinnerungen des gebürtigen Bonners Appel zitiert. „Wir kamen zu der Passage und der Lehrer sagte: ,Geht nach Hause!‘ Wir sahen den Rauch (…) Ja, sie haben die Synagoge niedergebrannt (…)“ Henry Gruen, so die Schüler und Schülerinnen, habe seine Erlebnisse in der Pogromnacht so zusammengefasst: „Was ich da am 9. November erlebt habe, war die Explosion der nackten Gewalt.“

Zu Beginn seiner sehr persönlichen, emotionalen, auch politischen Ansprache nannte Rabbiner Yechiel Brukner die Schüler und Schülerinnen Gleichgesinnte und Botschafter. Er freue sich, mit ihnen hier sein zu dürfen. Der gebürtige Schweizer lebt in Israel und arbeitet im sechsten Jahr als Rabbiner der Synagogen-Gemeinde Köln. Schon oft habe er mit Gleichgesinnten an diesem Platz gestanden. „Heute ist es anders als sonst. Heute fliegen mir andere Gedanken durch den Kopf. Ihr habt es zum Teil auch erwähnt und euch sehr solidarisch ausgedrückt. Das ist wunderbar und man kann es nicht genug betonen.“

Er bezeichnete die Schüler und Schülerinnen als Botschafter. Wenn sie in ihrer Familie, ihrem Freundeskreis und Einflussbereich ihre Eindrücke und Gedanken weitergeben würden, müssten sie auch dort sehr stark sein. Brukner zeigte sich sehr beunruhigt von Erlebnissen in letzter Zeit. So habe ihn zuletzt ein älterer Schüler gefragt, wie er dazu stehe, dass in Israel jeden Tag ein palästinensisches Kind ermordet werde. „Ich war von dieser Frage so schockiert“, berichtete Brukner. Er habe den jungen Mann nur gefragt: „Und das glaubst du wirklich, dass wir so etwas machen? Da sagt er: ,Ja.‘ Da war ich ein zweites Mal schockiert.“ Jetzt verstehe er viel besser, „woher das kommt, was jetzt gerade nicht nur in Deutschland passiert, sondern auch in Amerika und in vielen, vielen Ländern in der Welt, etwas, das unlogischer wohl nicht sein kann“, stellte Brukner fest. Nachdem jüdische Menschen dahingemetzelt, andere als Geiseln genommen worden seien, nachdem das durch die Hamas geschehen sei, stünden jetzt Leute auf. Sie „gehen auf die Straße und schreien gegen mich, als Jude, als Israeli. Warum gegen mich? Weil ich mich dagegen wehre?“. Selbstverständlich meinte Brukner insgesamt das jüdische Volk, den Staat Israel. „Unser ganzes Volk hat eine verletzte Seele in diesen Tagen“, so der Rabbiner. „Und es wird Generationen dauern, bis das wieder verheilt.“

„Es gab nur die Option zu fliehen“

„Aber wir dürfen uns scheinbar nicht wehren“, richtete er den Fokus auf die Situation in 1938: „Es gab gar keine Option sich zu wehren. Es gab nur die Option zu fliehen.“ Drei Jahre nach der Schoa sei der Staat Israel gegründet worden. Und das jüdische Volk habe gesagt, „wir lassen uns das nicht noch einmal gefallen. Wenn uns das nochmal geschehen sollte, dann werden wir uns wehren, gegen dieses Böse, dieses Unmenschliche, gegen diese Gewalt und den Hass.“

Brukner sprach den Schülerinnen und Schülern seine größte Wertschätzung aus. „Ich danke euch, dass ihr das macht, was ihr macht.“ Er flehte die jungen Menschen an, ihre Erkenntnisse zu vertiefen. Alles Böse basiere auf Ignoranz, auf Nichtwissen. „Mehrt euer Wissen“, ermutigte Brukner, und bat die Jugendlichen, stark zu sein, Zivilcourage zu zeigen. Gerade weil man heutzutage wirklich mutig sein müsse, wenn man die richtige Meinung vertreten wolle, wünschte er den Gymnasiasten und Gymnasiastinnen dabei viel Erfolg „zu Ehren des Landes, in dem ihr lebt, zu eurer Ehre und zur Ehre der zivilisierten Gesellschaft der Welt“. Brukner abschließend: „Ich sage euch Schalom und Schalom ist Frieden.“

Mit dem ergreifenden Gebets-Vortrag von Mordechai Tauber endete die Veranstaltung. Der Kantor der Synagogen-Gemeinde Köln trug El Male Rachamim (Gott voller Erbarmen) in der erweiterten Version für die Opfer der Schoa vor.

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich