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Der katholische Pfarrer Franz Meurer predigt.

Spirituelle Rock- und Popmusik: Ökumenische Beatmesse hat warmherzige Botschaft

„Wo Menschen sich vergessen, die Wege verlassen … da berühren sich Himmel und Erde, dass Frieden werde unter uns.“ Dieses eingängige Stück stammt von Mitgliedern der Band Ruhama. Mit ihrer begeisternden liturgischen, spirituellen Rock- und Popmusik prägten sie die ökumenische Beatmesse in der voll besetzten evangelischen Johanniskirche in Köln-Sülz stark mit.

Ein halbes Jahr Vorbereitung liege hinter dem Projektteam, erläuterte Ivo Masanek auch den vielen am Live-Stream mitfeiernden Menschen in nah und fern. „Wir fühlen uns gut verbunden mit euch.“ Der Pfarrer der veranstaltenden Evangelischen Kirchengemeinde Köln-Klettenberg leitete mit dem Mainzer Dominikanerpater Diethard Zils, einem Urgestein der Beatmessen-Tradition auch in Köln, die Liturgie. „Selig sind, die warmherzig sind“, verkündete Masanek zunächst das Motto. Die Idee gehe nicht zuletzt auf vormalige Konfirmandinnen und Konfirmanden zurück. Sie hätten erkannt, dass in Barmherzigkeit eigentlich der Begriff Warmherzigkeit stecke. Deswegen höre man heute warmherzige Lieder von und mit Ruhama sowie eine warmherzige Predigt von Franz Meurer. „Dieser sei so vielen vertraut und bekannt als sozial engagierter katholischer Pfarrer in Höhenberg, Vingst und darüber hinaus“.

„Wir können Gott erfahren oder ihn verfehlen“

Die gewohnte Aktualität der Beiträge zeigte sich schon im Eingangsspruch des 88-jährigen Diethard Zils. „Sende deinen Geist auch in die Herzen derer, die gefangen sind im Netz der Gewalt. Als Täter oder Opfer. Und lass uns nie die Suche aufgeben nach dem Gespräch mit ihnen“, betete er zu Gott, der ein Gott des Lebens sei. Seiner Lesung aus Matthäus (25,37-40) über die Nächstenliebe stellte er voran, dass sich sogenannte Gute und sogenannte Böse von der Zeit Jesu bis heute mit ungelöster Problematik weltweit konfrontiert sähen. Mit „Hunger, Mangel an gesundem Wasser, Migration und Völkerwanderung, Massenarmut, Pandemien, Terrorherrschaft“. Wir könnten antworten mit Gleichgültigkeit oder „über Leichen gehen“. Andererseits: „Wir können uns zur Herzenswärme erwärmen lassen. Menschliche Wärme erfahren und verschenken. Wir können Gott erfahren oder ihn verfehlen.“

In der dreigliedrigen Litanei Kyrie eleison (Gott sei bei uns / Gott, erbarme Dich) wandten sich gerahmt von Ruhamas Spiel und Gesang stellvertretend drei Menschen sorgenvoll an ihre liebe Kirche, Großstadt und ihr liebes Leben. „Kirche, was ist los mit dir? Unter deinen Dächern passieren so viele Dinge, die nicht zu meinem christlichen Verständnis passen. Oft vermisse ich Zeichen von Liebe, Mitmenschlichkeit, Solidarität und gelebter Gemeinschaft (…) Viele Menschen kehren dir den Rücken zu. Kirche, ich mache mir Sorgen um deine Zukunft.“ Dem „lieben Leben“ wurde gedankt für die bisher erlebte unbesorgte Zeit. „Für das friedliche Zusammenleben mit verschiedenen Kulturen, die meinen Horizont erweitert haben.“ Jetzt aber wüchsen die Sorgen durch die „vielen Kriege, die Klimakatastrophe, die von Menschen zerstörte Natur, die die Ökologie aus dem Gleichgewicht bringt“. Viele Menschen in deinen Häusern, Wohnungen und auf deinen Straßen würden immer einsamer, wurde an die „liebe Großstadt“ herangetragen. „Wir schenken uns gegenseitig zu wenig Aufmerksamkeit (…) Warum gehen wir nicht aufeinander zu?“

„Stärke alle, die sich für den Frieden einsetzen“

In konzentriert gesetzten Worten wandte sich Masanek an die „lieben Menschen im Nahen Osten“ und an Gott. „Wir sind entsetzt, entsetzt über den terroristischen Angriff der Hamas auf Israel. Dieses Blutbad unter Säuglingen, Kindern und Jugendlichen, Frauen, Männern und alten Menschen. 200 verschleppte Geiseln, so viel Leid. So viel Leid auch unter den Palästinenserinnen und Palästinenser im Gazastreifen, das uns ebenso sprachlos macht, Gott. Keine Chance für sie zu fliehen, Trinkwasser, medizinische Versorgung, die sind knapp oder fehlen schon ganz. So viele Tote und Verletzte auf beiden Seiten, Gott.“ Man habe nur eine Bitte: „Stärke alle, die sich für den Frieden einsetzen“, bat Masanek um ein Schweigen für die Menschen in allen Kriegsgebieten unserer Erde.

In der Meditation „Hör auf dein Herz!“ folgten sehr viele Teilnehmende der Einladung einer Akteurin, eine oder beide Hände auf das eigene Organ zu legen. „Ganz ruhig wird es um mich herum, ganz ruhig wird es in mir. Und ich suche mein Herz. Vielleicht spüre ich ihn, meinen Herzschlag“, sprach sie behutsam. In der Folge führte sie weiter über dieses „Wunder“ aus und  erinnerte auch an die biblische Aufforderung: „Mehr als alles andere behüte Dein Herz, denn von ihm geht das Leben aus.“ Sie dankte ihrem Herz, dass es für ihr Leben schlage: „Danke, dass du mein Gewissen bist, dass deine Wärme mich durchströmt. Die Warmherzigkeit will ich gerne mit der Welt teilen.“

Pfarrer Franz Meurer nimmt selten ein Blatt vor den Mund. Der Theologe und studierte Sozialwissenschaftler bringt Dinge auf den Punkt. Er ermutigt und motiviert. Bei der Vermittlung hilft ihm auch sein feiner Humor. Wie jetzt in seiner Predigt über Religion, Resonanz und Unverfügbarkeit des Glaubens, über Kunst und Poesie – und im Grunde über ein hörendes Herz, über Warmherzigkeit. Auf das erste Hören hatte die Kanzelrede des 72-Jährigen etwas von einer Vorstellung beachtenswerter Literatur. Doch Meurer machte etwas anderes, machte viel mehr daraus. Der Theologe verband Inhalte und Begrifflichkeiten. Und spannte mal lakonisch, mal erzählerisch, energisch wie berührend einen Bogen.

„Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen“

Zu Beginn zitierte er aus einem jüngeren Buch von Navid Kermani. „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen“, lautet der Titel. Damit griff der in Köln lebende deutsch-iranische Publizist auf eine Bitte aus dem 11. Jahrhundert zurück. Diese hatte der Platzanweiser einer Moschee an eine große Menge Gläubiger gerichtet, um mehr Platz zu schaffen. Viele Menschen wollten den großen islamischen Mystiker Scheich Abu Said hören. Dieser schloss daraufhin die Versammlung vor ihrem Beginn mit der Begründung, dass der Anweiser alles gesagt habe, was er selbst habe sagen wollen und sämtliche Propheten gesagt hätten. Kermani, so Meurer, habe das Buch geschrieben als Vermächtnis an seinen Vater. Dieser habe ihn gebeten, seinem Enkelkind zu erklären, was Religion sei. „Und das macht er in diesem Buch. Und zwar wirklich.“

„Maria stand auf und machte sich eilig auf den Weg“, griff Meurer das Motto des Weltjugendtages 2023 auf. „Ist es nicht das, was auch für diesen Gottesdienst gilt?“ In der katholischen Kirche sage man am Schluss, „wie immer weichgespült“, Gehet hin in Frieden. Nein, korrigierte Meurer. Es heiße „Ite (ita) missa est“, also „raus und ran“. Das mache den Unterschied. Und „jetzt ist der Notfall, der Ernstfall ist draußen“. Meurer wies hin ebenso auf das neue Buch „Demokratie braucht Religion“ des Soziologen Hartmut Rosa. „Aber jetzt nicht Religion, wie ihr meint“, konkretisierte Meurer. Rosa meine mit Religion Resonanz. Er sage, Resonanz sei das Wichtigste, um überhaupt sein Herz anzuwärmen. Meurer findet das eine „super“ Aussage. Vater und Mutter reagierten auf ihr schreiendes Baby. „Aha, mir hört einer zu. Das heißt, ich kann etwas bewirken. Ich kann etwas in Bewegung setzen. Selbstwirksamkeit entsteht.“ Und dann entstehe als drittes Transformation. „Transformation bedeutet, das macht was mit mir.“ Man könne seinen Hautwiderstand, Herzschlag, seine innere Spannung messen. Transformation sei also das, was wir bewirken könnten, wenn wir unser Herz öffneten. „Und jetzt, das ist das Allerwichtigste und gerade für uns Christen. Rosa sagt: Das ist unverfügbar.“ Unverfügbarkeit sei unglaublich wichtig, denn wir dürften nicht rekrutieren.

Als Beispiel nannte Meurer, dass in seiner Gemeinde im wohl ärmsten Teil von Köln in Höhenberg-Vingst 17 Studentinnen unentgeltlich wohnten. „Sie machen dafür sechs Stunden Soziales, hauptsächlich mit Kindern Hausaufgabenhilfe.“ Wenn man eine Nebenabsicht verfolgen würde, würde man alles kaputt machen. „Natürlich binden sich die Studentinnen in Wirklichkeit viel mehr als man sich das vorstellen kann“, so Meurer. „Aber es muss un-ver-füg-bar sein.“ Die Franzosen sagten „propose le croire“, den Glauben vorschlagen, „sonst nichts! Der Glaube ist nämlich ein Geschenk“. Gemäß Papst Benedikt sei nötig erstens Vernunft, zweitens Freiheit und dann werde der Glaube vielleicht geschenkt. „Warum ist das so wichtig?“, fragte der Prediger. „Religion ist das Gefährlichste, was es auf der Welt gibt. Wenn Du willst, dass ein guter Mensch etwas Böses tut, führe ihn zur Religion. Und wozu Religion fähig ist, muss ich jetzt nicht tiefer begründen.“

„Eltern würden ihr Leben für ihre Kinder geben“

„Ich sage ihnen mal, was mich am Kreuz so begeistert“, so Meurer: „Dass Jesus das tut, was Eltern für ihre Kinder tun würden. Eltern würden ihr Leben für ihre Kinder geben.“ Und wenn wir in die Welt schauten, wie Menschen leiden müssten – dann werde doch klar, worauf es ankomme: „Dass Gott ganz Mensch ist und bleibt, und auf unserer Seite steht. Warmherzigkeit pur.“ Und weiter ging es zum Debütroman „22 Bahnen“ von Caroline Wahl, laut Meurer eine „wunderbare Lebensgeschichte“. Sie mache aufmerksam auf „ein neues Phänomen in Deutschland“. Auf „Young Carers“, also Kinder, Jugendliche, die ihre Eltern und ihre Angehörigen versorgten oder pflegten. Hierzulande gebe es 500.000, so Meurer. Im Roman „Brüderchen“ von Clara Dupont-Monod kümmere sich der große Bruder aufopfernd um den kleinen, der „gar nichts kann“. „Er gibt so viel, dass er nachher gar nicht mehr lieben kann.“ Dieses Buch sei überhaupt nicht moralisch, sondern ganz hohe Poesie, empfahl es der Prediger, „wenn man Warmherzigkeit literarisch verkosten will“.

Wer den Armen helfen, wer warmherzig leben wolle, so Meurers feste Überzeugung, dürfe nicht auf Literatur, Kunst und Poesie verzichten. Wenn wir nicht mehr in der geistigen Welt unterwegs seien, könnten wir überhaupt keinem Armen helfen. „Bringt gar nichts“, so Meurer. Mit Blick auf die sich gegen große Widerstände verbreitenden Christen in der Antike, die erstens allen Menschen geholfen und zweitens überlegt hätten, was die Welt im Innersten zusammenhalte, leitete Meurer für die Gegenwart ab: „Wir Christen müssen zweierlei machen: hemmungslos Caritas und uns ins Gespräch der Gesellschaft einbringen.“ Wir müssten unsere Gedanken nach vorne bringen, nannte er das Beispiel Joseph Kardinal Höffner, der die dynamische Rente weitgehend mit entwickelt habe. „Wir müssen unsere klare Position zum Ausdruck bringen.“

Ein hörendes Herz

Laut Hartmut Rosa komme es vor allem auf ein hörendes Herz an, so Meurer. Er erklärte die Herkunft des Begriffs. Gott habe König Salomo im Traum einen Wunsch offeriert. Statt einen Lottogewinn oder ein großes Reich habe dieser sich ein hörendes Herz gewünscht, „damit er die Menschen verstehen kann“. Es komme doch darauf an, zu versuchen, davon etwas umzusetzen, was bleibe, stellte Meurer fest. „Mutter Teresa hat gesagt: Der Kranke, den ich im Krankenbett pflege, ist der gleiche, nein, der selbe, den ich in der Eucharistie empfange.“ Ein hörendes Herz, oder mit Papst Franziskus ein sehendes Herz, sei also mit „eurer Erfindung warmherzig“ auch ein fühlendes Herz, schloss Meurer.

Yasemin Aydin, von Masanek nach vorne gebeten, engagiert sich ehrenamtlich im Projekt „Kölner Kältebus“. Initiiert hat diese „mobile Obdachlosenhilfe“ 2015 der Verein Freunde der Kölner Straßen und ihrer Bewohner e. V. (fdks-obdachlosenhilfe.de). Diesem Verein und Projekt wolle das Beatmesse-Team die Kollekte zukommen lassen, teilte Masanek mit. Sein Tipp an die Besuchenden: Bevor nach Kleingeld „kramen“, hören, dass es sich lohnt, nach Scheinen zu greifen. Aydin beschrieb, wie wichtig es sei, obdach- und wohnungslose Menschen dort aufzusuchen und etwa mit Essen, Getränken und Kleidung zu versorgen, wo sie sich vornehmlich aufhielten. Die junge Frau wies nicht nur auf feste Termine und Standorte des Kältebusses hin. Bei Minustemperaturen sei man zudem in Bereitschaft und flexibel auch mit Privatautos im Stadtgebiet unterwegs, „damit wir das Aufkommen auffangen können“. Heutige Spenden wolle man für die Beschaffung von Isomatten und Schlafsäcken verwenden. Beide seien in der kalten Jahreszeit auf der Straße überlebensnotwendig. Die Zuhörenden applaudierten nicht nur stark. Sie folgten Masaneks Empfehlung, und legten vor allem Papiergeld in den Klingelbeutel. Nach längerem Zählvorgang konnte der Pfarrer überaus erfreut eine stolze Summe vermelden: 2677,72 Euro.

Danach noch spielte Ruhama Lied auf Lied. Dann zog es die zuvor mitsingende und -klatschende Gemeinde in das Tiefgeschoss. Dort wartete das vom Team Damenmahl zubereitete Mittagessen. Dessen Wohlgeruch hatte bereits im Kirchraum den Appetit angeregt. Nun stand dem Genuss der veganen Minestrone, wahlweise ohne oder mit gewürfeltem Speck, nichts mehr im Wege.

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich