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Mitglieder des Theologinnenkonvents des Kirchenkreises Köln-Nord und Melek Henze (hintere Reihe, 2. v. r.)

„Was ist aus unseren Träumen geworden?“ – Frauenmahl setzt Zeichen für Solidarität und Gerechtigkeit

„Jetzt ist die Zeit für Solidarität und Gerechtigkeit – Kölnerinnen damals und heute kämpfen weiter“ lautete das Motto des Frauenmahls zum Reformationsfest. Eingeladen hatte der Theologinnenkonvent des Kirchenkreises Köln-Nord mit der gastgebenden Evangelischen Kirchengemeinde Weiden/Lövenich in das Gemeindezentrum Jochen-Klepper-Haus. Gut fünfzig Teilnehmerinnen und Mitwirkende tauschten sich aus, sangen und speisten gemeinsam. Sie lauschten der Musik von Frederik Stark und verfolgten Reden, Interviews und einer biographischen Darstellung in historischem Kostüm.

Gerechtigkeit und Solidarität seien Themen, die wir Frauen unbedingt teilen müssten, begrüßte die Weidener Pfarrerin Monika Crohn. Heute gehe es darum zu erfahren, was sie uns bedeutet haben und werden. Dazu gehöre unbedingt auch der Schalom, der Frieden. Unsere Gedanken, so Crohn, gingen an diejenigen, die Schweres erlebten. „Jetzt ist wieder Zeit für eine Zeitansage“, führte Pfarrerin Susanne Zimmermann ein. „Wie wir das schon immer im Kirchenverband tun rund um den Reformationstag.“ Der Konvent wolle zwei Frauen vorstellen – eine aus der Historie, eine von heute. Zunächst wolle man sich auf Spurensuche begeben mit der politischen Aktivistin, Schriftstellerin und Publizistin Mathilde Franziska Anneke (1817-1884). Und dabei einbeziehen, „was aus unseren Träumen geworden ist“. Anneke, eine Frau mit einem „reichen und rebellischen Leben“, gehöre zu den 18 weiblichen Figuren auf dem Kölner Rathausturm.

Eine Stimme gegen Armut und für Gleichberechtigung der Kulturen

„Das rebellische Gen gibt es auch bei uns, im Kirchenkreis Köln-Nord“, verwies Zimmermann auf die eingeladene Melek Henze. Die in der Türkei geborene und in Duisburg aufgewachsene Sozialwissenschaftlerin setzt sich für soziale Gerechtigkeit ein. Seit 2021 leitet sie den Lindweiler Treff, eine soziale Begegnungsstätte des Diakonischen Werkes Köln und Region im Kölner Norden. Auch dort ist die interkulturelle Beraterin und Konfliktmanagerin eine Stimme gegen Armut und für Gleichberechtigung der Kulturen. „Von ihr werden wir Handlungsanweisungen erfahren“, kündigte Zimmermann an.

Zunächst jedoch schlüpften die Pfarrerin Ronja Voldrich und Pfarrerin i. R. Uta Walger in die Rolle der jüngeren und älteren Sozialrevolutionärin und Frauenrechtlerin Anneke. Im inspirierenden Austausch untereinander ließen sie deren Leben in der Ich-Form überzeugend Revue passieren. Sie loteten Annekes Überzeugungen und starken Willen aus und ließen auch den privaten Herausforderungen und ihren Zweifeln Raum. Dabei wurde rasch deutlich, dass die historische Person „Sachen erlebt“ hat, „die für drei Leben reichen“. Sie erinnerte sich an eine tolle Kindheit in einem sehr liberalen, evangelisch-katholischen Elternhaus in Westfalen. Nach der Scheidung von ihrem ersten Mann verdiente sie sich ihren Unterhalt als Autorin von Gebetsbüchern. „Ich war sehr erfolgreich, wurde dafür gelobt“, beschrieb sie sich als Pflänzchen, das „anfing zu blühen und größer zu werden“. Durch die Gründung eines Salons, den Menschen mit Visionen besuchten, lernte sie Fritz kennen. Von ihm schwärmte die jüngere wie ältere Anneke. „Ein Mann, den ich vorher nicht erlebt hatte. Wir teilten unsere Gedanken, wollten zusammen die Welt verändern“, fühlte sie sich mit ihm auf Augenhöhe, als Kämpferin an seiner Seite. Seine neue Anstellung in Köln brachte die Familie in die Domstadt. Anneke initiierte mit die demokratische Gedanken verbreitende Neue Kölnische Zeitung. „Die war sehr erfolgreich, aber auch sehr verboten“, sagte sie hinsichtlich der Märzrevolution 1848.

Auch war sie beteiligt an der Gründung des Kölner Arbeitervereins. „Ich wollte mittendrin sein“, sprach sie über erträumtes Wahlrecht, Pressefreiheit und das Recht auf Bildung. „Gerechtigkeit für alle wollten wir erreichen.“ Dafür habe sie auch im badisch-pfälzischen Aufstand zu Pferde gekämpft. Schmähende Beinamen wie „Flintenweib“, „Communistenmutter“ oder „Apostelin des Kommunismus“ habe sie fast als Kompliment empfunden. „Die Preußen haben uns niedergemacht.“ Tot würden wir der Revolution nicht mehr nutzen, habe der zwischenzeitlich inhaftierte Fritz gesagt. Man sei über die Schweiz mit anderen Verfolgten in die USA ausgewandert. „Wir retteten unser Leben und unsere Idee.“ Erste Station sei New York gewesen, dann die deutsche Kolonie in Milwaukee im Bundesstaat Wisconsin. „Ich war richtig fleißig als Schriftstellerin, konnte Reden halten, fand Gleichgesinnte.“ Zusätzlich habe sie sich für die Befreiung von der Sklaverei und das Frauenwahlrecht eingesetzt, verstand sie sich auch in Übersee als Netzwerkerin. Nach einem Intermezzo in der Schweiz kehrte Anneke zurück in die USA. Mit einer Freundin gründete sie eine Töchterschule, auf der „vernünftige“ Bildung inklusive der Naturwissenschaften vermittelt wurde.

„Gemeinsam solidarisch miteinander umgehen.“

Abschließend erkundigte sich Zimmermann nach dem Knackpunkt von Annekes Einsatz für soziale Gerechtigkeit? Der liege begründet in der eigenen Notlage, „die war ja schon immer da“, so Voldrich.  Relevant sei es geworden, „als ich auf mich allein gestellt war“. Sie habe immer die Vision gehabt, dass Gerechtigkeit sein könne, dass man auf Augenhöhe mit Männern leben könne, nannte sie die Quelle ihres Antriebs. Diesen Traum von Gerechtigkeit gebe sie für alle weiter, sagte Voldrich. Was würde sie wohl gerne an uns weitergeben? „Ich finde, dass Frauen auch manchmal unbarmherzig miteinander umgehen, dass wir nicht solidarisch miteinander sind. Dabei ist das der größte Schatz. Gemeinsam solidarisch miteinander umgehen.“ Walger als ältere Anneke riet dazu, das Träumen nicht aufzuhören.

Melek Henze ist eine der Kölnerinnen, die heute für soziale Gerechtigkeit kämpfen. Beim Frauenmahl hielt sie eine „Rede zur Solidarität jetzt!“ Zuvor stellte sich sich Fragen von Zimmermann auch über ihre Tätigkeit als interkulturelle Beraterin. Nein, man müsse dafür keinen eigenen diversen kulturellen Hintergrund haben – „aber es kann helfen“. Überhaupt sehe sie in jeder Botschafterin, jedem Botschafter im Außendienst auch eine interkulturelle Beraterin oder einen interkulturellen Konfliktmanager. „Es ist eine Selbstverständlichkeit und auch eine Kernfähigkeit dieses Berufsbildes.“ Als Voraussetzung für den Erfolg einer solchen Arbeit nannte Henze Empathie, einen aufrichtigen, offenen Blick, einen möglichst wertfreien Blick auf die und das Andere. Dann könne man sehr gut interkulturell Brücken bauen. Ihr sei stets wichtig, nicht nur sich, sondern auch andere im Blick zu haben. Dazu gehöre auch das  Rebellische, das „ganz klar“ in ihrer Kindheit aufgekommen sei. Damals schon habe sie Antworten auf Fragen nach dem „Warum“ als unzureichend, als eingrenzend verstanden. „Nimm das an, das ist so“ – mit diesem Motto habe sie sich schon als Kind nicht anfreunden können. Und irgendwann sei sie so weit gewesen, sich für Veränderung einzusetzen.

„Was hat dabei Kraft gegeben?“, wollte Zimmermann wissen. Sie habe beim Gespräch der beiden Annekes gedacht, „das habe ich auch so erlebt“, erwiderte Henze. Die gleichen Beweggründe. „Jeder Kampf hat mir mehr Kraft gegeben.“ Ihr geltende Mauern hätten das Bedürfnis geweckt, diese einzureißen. „Mir widerstrebt alles, wenn ich Ungerechtigkeit sehe.“ Oft werde sie gefragt: „Warum bist du eigentlich in Lindweiler?“ „Weil ich das möchte“, sagte sie in Weiden. „Ich will gerade dort sein und nicht woanders.“ Diese Stelle habe sie bewusst gewählt in der Pandemie, „weil ich diesen Job machen wollte“. Nach wie vor gehe sie mit Freude und Lust zur Arbeit. „Ich bin am Abend glücklich, auch wenn ich vielleicht nicht alles geschafft habe.“

„Rede zur Solidarität jetzt!“

In ihrer „Rede zur Solidarität jetzt!“ wandte sich Henze mit der Geschichte von der Speisung der 5000 an die „lieben Schwestern“. Anhand eines konkreten Beispiels verdeutlichte sie, was diese Geschichte aus der Bergpredigt mit der alltäglichen Arbeit in einer diakonischen Einrichtung wie dem Lindweiler Treff zu tun hat. Bei dem Exempel handelte es sich um das Hoffest, „das wir Ende August zum ersten Mal seit Corona wieder auf dem Marienberger Hof gefeiert haben“. Einleitend beschrieb Henze die Lage, Situation und verschiedenen Lebenssituationen der Besuchenden und Nachbarn der Einrichtung. Das Stadtteilzentrum bietet Beratungsangebote, offene Hilfsangebote und ein vielfältiges Programm für die Stadtbevölkerung und das Veedel. Es verfügt unter anderem über ein Café und einen Second Hand Laden.

In Lindweiler lebten „so viele unterschiedliche Menschen mit ganz gegensätzlichen Bedürfnissen auf engstem Raum zusammen“, stellte Henze fest. „Gerade weil dieser Stadtteil in seiner von Autobahnen ummauerten Randlage sehr auf sich allein gestellt ist, (…) gibt es ganz viele in Lindweiler, die begriffen haben: wenn wir uns hier nicht aus dem Weg gehen können, dann müssen wir irgendwie miteinander auskommen. Und was dieses ,irgendwie‘ dann ausmacht: das liegt an uns“, hob sie hervor, „wie viel ehrenamtliches und zivilgesellschaftliches Engagement sich gerade in so einer schwierigen Randlage mobilisieren lässt“.

Im Lindweiler Treff versuche man verbindend zu arbeiten, „das Inklusive erfahrbar zu machen und allem Ausgrenzenden entgegenzustellen“, so die Leiterin. „Von den rund vierzig Ehrenamtlichen im Treff sind rund 65 Prozent selber auf Sozialleistungen angewiesen. Viele bringen ihre Brüche, Enttäuschungen und Erfahrungen von Scheitern mit.“ Aber wenn es ums Anpacken gehe, ständen sie sofort bereit. Als man für die Planung des Festes die anderen Vereine in Lindweiler eingeladen habe, sei es auch um die Frage der Kosten für die Büfett-Speisen und Softdrinks gegangen. „Niemand wollte einen großen Reibach machen. Aber die meisten waren sich einig: ein Euro für eine Waffel, einen Hot Dog, eine Limo: das ist doch wirklich fast geschenkt! (…) Aber was günstig oder teuer ist, wird in den Wohnungen rund um den Platz ganz anders erlebt, als in den ,bürgerlichen‘ Straßen dahinter.“

„Es wäre ein Fest geworden, das die einen in vollen Zügen hätten mitfeiern können, und bei dem die anderen mit jeder Minute mehr gespürt hätten, dass sie nicht dazu gehören“, richtete sie den Blick auf finanziell schlechter gestellte Menschen und Familien. Am Ende einer intensiven Diskussion habe man „die alles entscheidende Weiche in Richtung auf ein wirklich inklusives Hoffest gestellt: das ganze Fest würde für die Menschen von Anfang bis Ende kostenlos werden“. Das Vertrauen darauf, „genug Spenden für das Büfett zu bekommen“, sei gerechtfertigt gewesen.

Ein Gefühl von Freiheit

Kostenlos habe man nicht nur Speisen und Getränke angeboten. Ebenso frei hätten die zahlreichen Spielangebote und Aktionen genutzt werden können. „Kein Kind musste bei Mama oder Papa betteln, ob es nicht doch dabei sein konnte. Und in dem Getümmel waren sie alle dabei: die Menschen vom Marienburger Hof, deren Sorgen und Tragödien ich unter der Woche immer wieder mitbekomme. Könnt Ihr Euch vorstellen, was dieses kostenlose Fest für manche ein Gefühl von Freiheit geschenkt hat?“

Henze erläuterte die Beziehung zur biblischen Geschichte von der Speisung der 5000. „Erstens: Wenn man Menschen für viele Stunden an einen Ort einlädt, dann bekommen sie Hunger.“ Zweitens habe man hinsichtlich „der materiellen Voraussetzungen am Anfang auch kaum mehr als die fünf Brote und zwei Fische gehabt, um die vielen Menschen satt zu kriegen“. Mit einem von Henze nur andeutungsweise genannten bescheidenen Förderbetrag habe man über 600 Menschen rundum verwöhnen können. „Und das ist die dritte Parallele: Aus unseren ,fünf Fischen und zwei Broten‘ als Grundstock wurde mit dem großartigen Spirit der Ehrenamtlichen ein Festessen.“

„Solidarität und Zusammenhalt entscheiden sich oft über kleine, aber entscheidende Weichenstellungen“, konstatierte Henze. Das zeige die Geschichte dieses Hoffestes. „Diese Weichen im Alltag immer wieder zu erkennen und dann aber auch darum zu kämpfen, dass sie in die richtige Richtung gestellt werden, dass ist unser tägliches Bemühen.“ Dafür brauche man Verbündete. „Dafür brauchen wir euch alle. Und manche Weichen sind so schwer und manchmal auch so verrostet, dass wir noch viel mehr werden müssen, um sie in Richtung einer solidarischeren Gesellschaft umlegen zu können.“

Beim Essen und in zwei Gesprächsrunden wurde sich an den Tischen rege ausgetauscht. Zunächst darüber, was aus früheren Träumen geworden sei. In der Schlussrunde lautete die Fragestellung: „Was tun wir heute für Solidarität und Gerechtigkeit?“ Vielschichtig fielen die Antworten aus. Einerseits ging es um persönliche Hilfe, indem man etwa auf einsame oder alleinerziehende Nachbarinnen und Nachbarn achte. Und wenn angesagt, einfach mal mit anpacken. Andererseits wurde dafür plädiert, „sich öffentlich einzusetzen, den Mund aufzumachen und Zivilcourage zu zeigen, wenn Diskriminierendes, Antisemitisches oder Frauenfeindliches gesagt oder so gehandelt wird“. Nach wie vor setze man sich für Flüchtlinge ein. Und weiter pflege man auch Kontakte nach Israel und Palästina und zeige Verbundenheit.

Auf Vorschlag von Henze geht die Kollekte der Veranstaltung an die Stiftung Wings of Hope Deutschland der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Diese verfolgt die Ziele „Trauma heilen, Frieden stiften, Versöhnung leben“.

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich