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„Wir brauchen einen deutschen Islam“

Lale Akgün plädiert leidenschaftlich für eine Reform des Islam

„Ich glaube, an diesem Abend wäre Philipp Melanchthon auch gekommen“, begrüßte Studienleiterin und Pfarrerin Dorothee Schaper die Gäste in der Melanchthon-Akademie. Denn der habe Zeit seines Lebens für reformatorische Aufbrüche plädiert. Die sind auch Themen in der evangelischen Bildungsakademie am Kölner Kartäuserwall. Für einen reformatorischen Aufbruch steht auch Lale Akgün. Die ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete war auf Einladung der Kölnischen Gesellschaft für Christliche-Jüdische Zusammenarbeit und der Melanchthon-Akademie gekommen und stellte ihr neues Buch „Platz da! Hier kommen die aufgeklärten Muslime” vor.

Miguel Freund, stellvertretender Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für Christliche-Jüdische Zusammenarbeit, erinnerte daran, dass fünf Prozent der Bevölkerung in Deutschland Muslime seien: „Wir möchten gerne denjenigen die Hand ausstrecken, die sich gemeinschaftlichen engagieren wollen überall dort, wo die Menschenwürde mit Füßen getreten und die Freiheit eingeschränkt wird.“ Die Referentin spielte den Ball zurück. „Ich habe mit beiden Institutionen, mit der Akadamie und der Kölnischen Gesellschaft immer gut zusammengearbeitet.“ Sie wolle mehr Wissen über den Islam in die Gesellschaft tragen, erklärte Akgün zu Beginn ihres Vortrags.

Unzählige Arten, den Koran auszulegen

Das Thema werden von jenen beherrscht, die diese Religion sehr konservativ interpretierten. „Der Islam ist eine importierte Religion. 1962 gab es 20.000 Muslime in Deutschland. Das waren Geschäftsleute, Studenten, Intellektuelle, die mit dem Islam nichts zu tun hatten.“ Mittlerweile seien fünf Millionen Muslime in Deutschland und es gebe unzählige Arten, den Koran auszulegen. Akgün nannte das Beispiel der Blinden und des Elefanten. „Wenn 100 Blinde einen Elefanten anfassen und ihn beschreiben sollen, wird ihn der eine als Schlange, der andere als Baum und wieder ein anderer ,als was weiß ich was‘ erleben. Es kommt halt immer darauf an, wo man hin fasst.“

Es gebe unter den Muslimen eine große Bandbreite: Sunniten, Schiiten und Alewiten seien die größten Strömungen. Alle würden vertreten von Leuten, die den Islam sehr orthodox verstünden. „Aber wie viele Menschen vertreten diese Verbände wirklich?“, fragte Akgün und nannte als Beispiel den „Zentralrat der Muslime“ sprachlich sehr geschickt an den „Zentralrat der Juden“ angelehnt. „Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime, spielt sich auf als Vertreter aller Muslime. Dabei hat sein Rat wenn‘s hoch kommt 10.000 Mitglieder.“

Da sei die Ditib, die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V., schon ein anderes Kaliber. Die untersteht dem staatlichen Präsidium für religiöse Angelegenheiten. „Das dümpelt als Behörde so vor sich hin, wenn die Türkei säkular regiert wird. Ist die türkische Regierung muslimisch geprägt, wird die Behörde umgehend zur Organisation des politischen Islams, die die Interessen von Erdogans Regierungspartei AKP vertritt. Die meisten islamischen Verbände in Deutschland pflegten gute Kontakte zum politischen Islam und seien nicht interessiert an Veränderungen. Die deutsche Politik sei trotzdem immer mit ihnen im Gespräch geblieben.“

Imame als Integrationslotsen

Aber: „Das Problem der deutschen Politik war bisher nicht der Islam, sondern die Integration. Muslime sind bei uns am wenigsten integriert. Das hängt aber in erster Linie vom Bildungsstand ab.“ Die Integrationslotsen im Sinne der Politik sollten die Imame sein. Dazu Akgün weiter: „Die Abkürzung zur Integration durch die Moscheen funktioniert nicht.“ Integration dauere zwei Generationen. „Aber die Moscheevereine sind nicht dumm. Sie haben staatliche Zuschüsse für die Integration gern genommen.“ Nun sei man bestrebt, den gleichen Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts wie die christlichen Kirchen zu erlangen. Dann könnte man Kitas, Schulen, Universitäten und Krankenhäuser gründen. „Nur für die eigenen Leute.“

Der deutsche Staat habe als Staat keine Religion. Das sein in der Türkei praktisch anders. Vor zwei Jahren habe Erdogan versucht, den Vorsitzenden der türkischen Religionsbehörde Diyanet als „Papst aller Muslime“ zu installieren. Alle Theologen seien sich einig gewesen. Der kann niemals Papst sein. Er ist ein Beamter.

Ein deutscher Islam

Die Hoffnung auf ein Bündnis liberaler Muslime dämpfte Akgün an diesem Abend in der Melanchthon-Akademie. „Die haben daran kein Interesse.“ Und auch ein liberalerer, zeitgemäßerer Koran sei undenkbar. „Die Orthodoxen betrachten den Koran als letztes von Gott offenbartes Buch. Da wird nichts verändert, sagen die.“ Dabei müsse man, so Akgün, unterscheiden zwischen den Koran-Suren, deren Bedeutung zeitlich begrenzt sei, und denen, die ewig gültig seien. „Die legen den Koran aus, wie die Zeugen Jehovas, die Bibel.“ Akgün plädierte vehement, es müsse „Schluss sein mit der Vorherrschaft des konservativen Islams in Deutschland“. Sie forderte einen säkularen Staat, in dem alle Religionen ihren Platz haben.

Es müsse einen deutschen Islam geben, der unabhängig sei von ausländischen Geldquellen und ausländischer Einflussnahme. Der deutsche Islam müsse eindeutig „Ja” zum Rechtsstaat sagen. Und „Ja” sagen zu unterschiedlichen Interpretationen des Glaubens. Und er müsse respektieren, wenn jemand kein Muslim mehr sein möchte. „Wenn auch mit der Faust in der Tasche.“ Imame müssten in Deutschland ausgebildet werden. Und der Lackmustest für die Ernsthaftigkeit von Reformbemühungen sei der Umgang mit der Frauenfrage. Akgüns Resümee: „Wir haben schon viel zu viel Zeit verloren.“

Text: Stefan Rahmann
Foto(s): Stefan Rahmann