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Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck (l.) stellte in der Kulturkirche Nippes im Gespräch mit Joachim Frank sein neues Buch „Erschütterung. Was unsere Demokratie von innen und außen bedroht“ vor.

Vergangenes als „Zukunftsressource“ – Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck zu Gast in der Kulturkirche Nippes

„Ich bin eigentlich in Deutschland zuständig für Zuversicht“, sagte Joachim Gauck über sich selbst. Bis er bei der Zuversicht angelangt war, brauchte der ehemalige Bundespräsident bei der Vorstellung seines neuen Buches „Erschütterung. Was unsere Demokratie von innen und außen bedroht“ allerdings knapp anderthalb Stunden.

Zunächst warf Gauck in der voll besetzten Kulturkirche Nippes einen Blick auf die lange Vorgeschichte des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Putins „Prinzip des Rechts des Stärkeren“ sei bereits 2014 erkennbar gewesen. Die Fehlentwicklungen hätten jedoch bereits im Kalten Krieg begonnen.

Unklarheit über die Entwicklung Russlands in den 1990er-Jahren

In den 1990er-Jahren sei noch unklar gewesen, „wo es mit Russland hingeht“. Daher sei auch Putins Rede vor dem Deutschen Bundestag im Jahr 2001 falsch beurteilt worden.

Die Voraussetzung für eine wirkliche Annäherung „wäre gewesen, dass Putin der geworden wäre, den die deutsche Entspannungspolitik in ihm sehen wollte.“ Brandt habe damals vor allem ein Sicherheitsgefühl erzeugen wollen. Auch erinnerte Joachim Gauck daran, dass auch Russland 1975 das Helsinki-Abkommen unterzeichnet habe, in dem (neben der Unverletzlichkeit territorialer Grenzen) auch grundlegende Menschenrechte festgeschrieben seien. „Der friedliche Wandel von 1989 hätte uns eigentlich wach werden lassen müssen“, resümierte der 83-Jährige, aber „unser guter Wille hat uns die Bedrohung nicht wahrnehmen lassen.“

Angesichts der immer wieder ins Feld geführten russischen Ängste vor einer Ausdehnung der NATO nach Osten betonte Gauck: „Die NATO hat keine Expansionsabsichten!“ Noch 1999 habe Putin vor dem Hintergrund der zwei Jahre zuvor unterzeichneten NATO-Russland-Akte offenbar „kein Problem mit der NATO“ gehabt. Die wahre Bedrohung für den Kreml-Chef sei das Bedürfnis der Menschen nach Demokratie und Freiheit gewesen.

Joachim Gaucks politische Rolle und seine Kritik an der Merkel-Ära

Nach seiner eigenen politischen Rolle in dieser Zeit befragt, erklärte Gauck: „Ein Bundespräsident darf nicht reden wie ein Ersatzregierungschef.“ Allerdings habe er auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 eine Rede gehalten, in der er eine „neue deutsche Außenpolitik“, verbunden mit einem stärkeren außenpolitischen Engagement Deutschlands gefordert hatte.

In der Politik der Merkel-Ära hätte ihm oft der ehrliche Umgang mit den Folgen politischer Entscheidungen gefehlt. Als Beispiel nannte der Bundespräsident a.D. Angela Merkels berühmten Satz „Wir schaffen das!“ und forderte: „Ich möchte, dass wir auch über Schwierigkeiten reden.“

Die wohl richtungsweisendste politische Wortmeldung der jüngsten Vergangenheit war die „Zeitenwende-Rede“ von Bundeskanzler Olaf Scholz, die Joachim Gauck von der Zuschauertribüne aus verfolgte. „Ich hätte das den Sozialdemokraten nicht zugetraut!“, gab Gauck zu, aber Veränderungen kämen oft von politisch unerwarteter Seite. „Das war ein Maß an Entschlossenheit, dass ich in Deutschland lange vermisst habe“, lobte er und bezeichnete den Auftritt des Kanzlers als einen „historischen Moment“.

Äußere Bedrohungen für die Demokratie

Nach den äußeren Bedrohungen für die Demokratie kam Moderator Joachim Frank auf die inneren Bedrohungen für die Demokratie zu sprechen. Als solche machte Joachim Gauck die Einwanderungspolitik, die Rassismuskritik sowie die Subjektivierung der Politik aus. Ein Screening von 28 europäischen Ländern habe ergeben, dass 33 % der dort lebenden Menschen eine „autoritäre Disposition“ aufweisen. Das seien „Menschen, die den Wandel fürchten“. „Wir leben in einem Zeitalter, das viele Ängste hervorruft“, gab Gauck zu. Daher sei die AfD demokratietheoretisch nicht überflüssig. „Jeder Chef einer konservativen Partei ist verpflichtet, ein wertkonservatives Angebot zu machen!“, schrieb Gauck den politischen Akteuren rechts der SPD ins Stammbuch.

Die „critical race theory“ gehört für Gauck zu den „gruppenzentrierten“ (also de facto exklusiven) Fortschrittsmodellen und die „critical whiteness theory“, die Weißsein quasi als „Geburtsschaden“ darstelle, relativiere letztlich die Aufklärung. Gauck kritisierte außerdem, dass die Menschenrechte vermehrt als „Herrschaftselement westlichen Denkens“ angesehen würden – für Gauck wiederum eine „untergründige Ablehnung der Aufklärung“ und eine „Einladung zu einem partikularistischen Weltmodell“.

Aufgeklärter Patriotismus und breitgefächertes Parteienspektrum

„Menschen brauchen das Gefühl, bei sich selbst zu Hause zu sein“, meinte Gauck und plädierte für einen „aufgeklärten Patriotismus“ und ein „breitgefächertes Parteienspektrum“. Mit dem ihm eigenen Sinn für die griffige Formulierung bescheinigte er den Deutschen: „Wir können Vielfalt, aber wir können auch Heimat!“

„Unsere Demokratie ist immer im Werden“, betonte Gauck abschließend und entließ das Publikum mit einem Rat in den Abend, in dem wohl auch viel Lebenserfahrung des ehemaligen Pfarrers und Bürgerrechtlers steckte: „Aus Vergangenem das Zutrauen für Künftiges schöpfen!“

Text: Priska Mielke
Foto(s): Priska Mielke