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Oberbürgermeisterin Henriette Reker, Rainer Schmidt, Pfarrer und Theologischer Vorstand der Diakonie Michaelshoven und Stadtsuperintendent Bernhard Seiger (v.l.).

„Jeder ist anders. Das ist normal“: Pfarrer Rainer Schmidt beim Jahresempfang

„Meine schwer versehrten Damen und Herren“, begrüßte Rainer Schmidt die Gäste in der Kartäuserkirche. Und das war keineswegs despektierlich gemeint, wie sich später herausstellen sollte. Schmidt, Pfarrer und Theologischer Vorstand der Diakonie Michaelshoven, hielt den Vortrag beim Jahresempfang des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region.  Sein Thema: „Der Dienst der Diakonie – Inklusion als Beispiel für Perspektiven“.

Von Geburt an fehlen Rainer Schmidt beide Unterarme, nur am linken Oberarm sitzt ein kleiner Daumenansatz. Auch sein rechtes Bein ist verkürzt, er trägt eine Prothese und die Beeinträchtigungen mit Humor. „Es ist schwer in Zeiten der Inklusion, jemanden inklusiv zu begrüßen. Es gibt große Verunsicherungen. Wie soll man jemandem die Hand geben, wenn der keine hat?“

Schmidt, der bei den Paralympics im Tischtennis sehr erfolgreich und auch schon als Kabarettist unterwegs war, erzählte von einer Begebenheit in einem mondänen Hotel in Paderborn. Dort war für ihn ein Zimmer reserviert, und beim Einchecken legte der Rezeptionist den Meldeschein routiniert und ohne hinzuschauen auf den Tresen. Dann sah er Schmidt, stutzte und sagte: „Ach, der Schein ist nicht so wichtig.“ Und um Schmidt zu entlasten: „Sie können ihn ja unterschreiben. Machen Sie doch einfach einen Kringel.“ Schmidt hat dann mit „Rainer Kringel“ unterschrieben und hatte nach dieser Anekdote die Lacher auf seiner Seite. „Ich hätte moralisch reagieren können. Den Direktor holen lassen und Diskriminierung anprangern. Ich nehme das lieber mit Humor.“ Inklusion sei immer ein Glatteisprojekt. „Ich spreche heute zu Ihnen vielleicht nicht immer politisch korrekt, aber ehrlich. Ich bin gesund, nur ohne Hände.“

Dann wurde der Pfarrer grundsätzlich: „Inklusion ist die Kunst des Zusammenlebens von verschiedenen Menschen. Aber wir leben in einer Klassengesellschaft.“ In der Geschäftsführung der Diakonie Michaelshoven sei man per Du, mit den anderen Mitarbeitern per Sie. Es gebe unterschiedliche Dienstwagen. Inklusion, und da ging Schmidt zurück auf die ungewöhnliche Begrüßung zu Beginn seines Vortrags, heiße, es gebe nur noch Menschen mit Behinderungen. Aus ärztlicher Sicht sei er behindert, ein Normabweichler.

Das theologische Menschenbild sei ein anderes: „Jeder ist anders. Das ist normal.“ Die Einteilung der Menschen in Gruppen sei fatal. „Du hast eine Brille, rüber zu den Behinderten. Zahnersatz? Die Blonden nach links, die Brünetten nach rechts. Was ist mit den Gefärbten? Und den Glatzköpfen? Die Arier und die Nichtarier. In der zweiten Stufe der Ausgrenzung bekommen sie Etiketten: Sozialschmarotzer. Dann werden sie entmenschlicht, etwa als Schweine. Und dann ist es nicht mehr weit bis zur Vernichtung.“ Sobald Menschen in Gruppen aufgeteilt würden, werde es sehr schnell perfide.

Darum gehe es: Möglichkeiten zu schaffen

Schmidt erinnerte sich an seine Schulzeit. Als er sich dem Direktor seines zukünftigen Gymnasiums vorstellte, habe der einen prägenden Satz gesagt: „Herr Schmidt, was müssen wir tun, damit Sie hier zur Schule gehen können?“ Darum gehe es: Möglichkeiten zu schaffen. „Gibt es eine Grenze für Inklusion? Rechtlich nein, de facto ja. Zu einer privaten Geburtstagsfeier darf ich, wenn ich will, nur Männer einladen. Aber wenn man als einziges Kind der Schulklasse nicht zu einem Geburtstag eingeladen wird, tut das echt weh.“ Es gebe allerdings doch Grenzen. „Wenn ich sehe, dass ein Pilot erkennbar blind ist, würde ich ihn fragen: Willst du das Ding jetzt wirklich fliegen?“

In seinem Sportunterricht habe er einmal einen 1000-Meter-Lauf absolvieren müssen. Er war am längsten von allen unterwegs. Der Sportlehrer habe ihm eine Neun als Note geben wollen. Daraufhin sei in der Klasse eine Diskussion entbrannt. Man dürfe die Leistung eines Mädchens mit 80 Kilogramm Körpergewicht nicht mit der eines 50-Kilo-Leichtgewichtes vergleichen. Und ein 1,90-Meter-Hüne habe einfach eine längere Schrittlänge als einer mit 1,50 Metern. So sei es generell im Schulunterricht. Bei der einen werde zu Hause nur Türkisch gesprochen, der andere bekomme Gute-Nach-Geschichten von Hermann Hesse vorgelesen.

Die Quintessenz: „Vergleiche nie ein Kind mit einem anderen.“ Es gelte, das System zu stärken, aber nicht jeden Einzelnen. Früher habe es integrative Kindergärten gegen. Da seien Logopäden selbstverständlicher Teil des Teams gewesen. Heute gebe es inklusive Kitas und die Förderung werde extern außerhalb geleistet. Es seien im Übrigen nicht die Menschen mit Behinderungen, die am meisten von der sozialen Teilhabe ausgeschlossen seien. „Es sind die Armen. Sie haben mehr Stress, werden häufiger gemobbt und diskriminiert.“ Und zum Schluss: „Wir brauchen Inklusion. Wir brauchen gleiche Rechte für alle.“

Zu Beginn hatte Stadtsuperintendent Bernhard Seiger die Gäste willkommen geheißen: Oberbürgermeisterin Henriette Reker, Abraham Lehrer, Vorstand der Synagogengemeinde und stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden, Stadtdechant Robert Kleine und zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Verwaltung und Kirche. „Dieses Jahr soll es um Diakonie gehen, um den praktischen Dienst der Kirche in der Gesellschaft. Anlass für unser Thema ist, dass wir im nächsten Jahr ,100 Jahre evangelische Diakonie in Köln und Region‘ feiern. 1924 wurde das ,Zentrale Jugend- und Wohlsfahrtsamt der Evangelischen Gemeinden Großkölns‘ in der Antoniterstraße gegründet.“

Seitdem habe sich die Diakonie enorm weiterentwickelt. „Tausende Menschen arbeiten in der Diakonie und der Caritas und in den kirchlichen Verbänden und Initiativen. Sie sorgen dafür, dass Menschen gute Chancen zur Entwicklung ihres Potentials bekommen und weitgehend selbstbestimmt leben können.“ Seiger erinnerte an die Demonstration der Liga der Wohlfahrtsverbände in der vergangenen Woche. 8000 Menschen hätten für den Erhalt der Sozialangebote demonstriert. „Die Inflation, Tarifsteigerungen und die unzureichende Ausfinanzierung vieler Leistung ist teilweise nicht mehr zu tragen und wird existenzbedrohend, weil die Zuweisungen nicht auskömmlich sind. Das Subsidiaritätsprinzip, das uns so weit gebracht hat, bekommt große Risse.“

Schwierigkeiten der öffentlichen Haushalte

Er wisse sehr wohl um die Schwierigkeiten der öffentlichen Haushalte. „Trotzdem braucht es angesichts der prekären Lage solche deutlichen Zeichen, damit allen klar wird, dass der soziale Zusammenhalt in unserer Gesellschaft auch an diesen Investitionen hängt und manches zusammenbrechen wird, wenn die Finanzierung nicht besser wird.“ Seiger bedankte sich beim Bläserensemble „Cologne Concert Brass“ für die musikalische Begleitung des Empfangs.

Die Oberbürgermeisterin warf einen verhalten optimistischen Blick in die Zukunft. Die zwei Millionen, die in diesem Jahr im Stärkungspakt übrig geblieben seien, werde man in das nächste Jahr übertrage. „Wir wollen alles retten, was zu retten ist.“ Reker bedankte sich bei den Kirchenvertretern, „dass sie das alles organisieren, worauf wir als Kommune angewiesen sind.“ Toleranz werde in den Wohlfahrtsinstitutionen zur Gegenwart. „Und ich spreche Ihnen meinen ausdrücklichen Respekt aus vor Ihrer Haltung beim Grundrecht auf Asyl.“ Weniger Migranten bedeuteten nicht automatisch weniger Rechtsextremismus. „Das ist blauäugig.“

Es gebe viel tiefer liegende Probleme, mit denen sich die Gesellschaft auseinandersetzen müsse. Die Oberbürgermeisterin bedauerte, dass der Bezug zu den Werten der Heiligen Schrift zunehmend verloren gehe. „Die Kirchen gehören zu den Fundamenten unseres Zusammenlebens. Wir müssen ihre Botschaften als Teil des Alltags inventarisieren.“

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Text: Stefan Rahmann
Foto(s): Stefan Rahmann