Der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen. Aktuell steht die Gesellschaft aber zwischen zwei Polen: eine enger zusammengewachsene, solidarische Gemeinschaft im Angesicht von Corona, der Flutkatastrophe 2021 oder aktuell dem Ukraine-Krieg auf der einen Seite – eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Arm und Wohlhabend, Integrierte und Außenstehende auf der anderen. Dazu drohen regelmäßig aufgeheizte Debatten um aktuelle Themen wie Corona, Klimawandel und die Zukunft Deutschlands und der Welt weitere Keile zwischen Bevölkerungsgruppen zu treiben. Viele Menschen leiden zudem unter Verunsicherung, Ängsten und Einsamkeit. Eine Expertin für das Thema Gemeinschaft ist die Oberkirchenrätin i.R. Cornelia Coenen-Marx aus Garbsen in der Region Hannover. Sie hat unter anderem ein Buch über „Die Neuentdeckung der Gemeinschaft“ geschrieben, publiziert zu dem Thema und hält Vorträge darüber. So auch vor kurzem in der Melanchthon-Akademie.
„Unsere Welt hat Flügel bekommen“, sagt Cornelia Coenen-Marx. Sie ist volatil geworden, beweglich, aber auch unstetig. „Der klar und verlässlich gezeichnete Rahmen, in dem Menschen über Jahrhunderte zusammengelebt haben, hat sich aufgelöst – das gilt für Geschlechterrollen wie für Familienbilder, für Biografien wie für Berufswege.“ Im Grunde, so sagt sie, lebe jede und jeder in einer eigenen Welt, wir haben eine „Gesellschaft der Singularitäten“. Dabei wünschen sich die meisten Menschen nichts mehr als stabile Beziehungen in Familie, Freund- und Partnerschaften.
Gesellschaft braucht Engagement
Doch berufsbedingte Umzüge und Neustarts oder zuletzt in der Corona-Pandemie das Auseinanderreißen der Familien und Bezugsgruppen über einen längeren Zeitraum hinweg führen dazu, dass Menschen „die alltägliche soziale Einbettung in Familie und Nachbarschaft“ verlieren, so Coenen-Marx. Hinzu kommt, dass ein Großteil der älteren und alten Menschen allein lebt, 40 Prozent der über 75-Jährigen. In einer Studie der Universität Frankfurt gab rund ein Fünftel der befragten 70- bis 89-Jährigen an, ihre Wohnung in der Woche zuvor kaum verlassen zu haben.
Während zu Beginn der Pandemie eine Welle der Solidarität an vielen Orten dafür sorgte, dass Menschen füreinander einkauften und aufeinander achteten, verschärfte sich mit zunehmender Dauer die gesellschaftliche und sozioökonomische Spaltung, beobachtete Cornelia Coenen-Marx, die als Inhaberin und Geschäftsführerin die Agentur „Seele und Sorge“ führt. Deutlich wurde in der Zeit der Sozialen Distanzierung voneinander aber auch, wie sehr die Gesellschaft auf das Engagement der Älteren angewiesen ist, ob als Großeltern, die berufstätige Eltern unterstützen, oder als Ehrenamtliche in Krankenhäusern und Altenheimen, in Hospizdiensten oder Gemeinden, in der Hausaufgabenbetreuung oder im Einsatz für Geflüchtete.
„Sorgende Gemeinschaft braucht Sorgestrukturen“
Sorgetätigkeiten werden heute vor allem als Dienstleistung verstanden, beschreibt Cornelia Coenen-Marx die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte. Es entstanden immer komplexere Hilfe- und Behandlungsketten. „Dabei wurden die ohnehin zu gering bezahlten Dienstleistungen auf das medizinisch Notwendige beschränkt und die Kontaktflächen mit Nachbarschaft und Kirchengemeinden immer mehr reduziert.“ Erst in den vergangenen Jahren werde versucht, dies wieder zu ändern.
„Ich bin mir nicht sicher, ob die Erfahrung, wie wesentlich neben den informellen Netzwerken ein tragfähiger Sozialstaat ist, in Erinnerung bleiben wird“, sagt Coenen-Marx im Interview mit kirche-koeln.de mit Blick auf die Coronazeit. „Gemeinschaft – soviel ist klar – wird auf der einen Seite in Familien, Nachbarschaften, Gemeinden, Vereinen und informellen Netzwerken gebildet, ist dabei aber auf eine kommunale Infrastruktur von der Tageseinrichtung bis zur Langzeitpflege, von den Schulen bis zum Gesundheitsamt angewiesen. Sorgende Gemeinschaft braucht Sorgestrukturen.“
Chancen und Aufgaben für die Kirchen
In ihren Publikationen und Vorträgen stellt Cornelia Coenen-Marx Beispiele vor, wie Netzwerke entstehen und sich Gemeinschaft in Quartieren entwickeln kann. Das kann die nähere Nachbarschaft sein, ein Stadtviertel oder ein Stadtraum, der eine eigene, gemeinschaftliche Identität hat oder herausbildet. Hier sieht sie auch neue Chancen sowie Aufgaben für die Kirchen, die vor allem Räume öffnen und anbieten sollten, etwa durch vielfältige Nutzungsmöglichkeiten von Gemeindezentren, die sie mit den Menschen, mit Gruppen und Organisationen vor Ort teilen. Auch die Schaffung generationenübergreifender Treffpunkte und Lebensorte gehört dazu. Oder niedrigschwellige Aktionen wie die Kirchenbank auf dem Marktplatz in Witten oder der Gesprächstisch auf dem Düsseldorfer Wochenmarkt. „Wenn die Kirchen vielen fremd, für andere zum Museum geworden sind, dann geht es darum, Gott einen Ort in dieser Welt zu sichern“, greift Coenen-Marx Gedanken der Mystikerin Madeleine Delbrêl auf, „mit unserem eigenen Glauben und Leben.“
Ein Beispiel ist das Projekt „Lebenswert“ in Reutlingen. Die Kreuzkirchengemeinde und ihre Partner vernetzten in wenigen Jahren hunderte unterschiedlicher Menschen in der Stiftung „Lebenswerte Nachbarschaft“, berichtet Coenen-Marx. Job- und Lesepatinnen und -paten gehören dazu, ein Sprachtranining für Geflüchtete, das „Zwergencafé“ oder das Angebot „Wandern mit Anderen“. „Neuzugezogene finden hier schnell Gleichgesinnte und wer Hilfe braucht, eine Telefonnummer. Die Schulrektorin ist genauso involviert wie die Stabsstelle für Bürgerschaftliches Engagement in der Kommune“, erläutert die Seelsorgerin.
Den Kirchen dürfe es nicht zuerst um den eigenen Fortbestand und Mitgliedergewinnung gehen, betont Coenen-Marx. Kirchen sollten stattdessen ein „Energiestrom für das Gemeinwesen“ sein, zitiert sie Delbrêl. „Gemeinwesendiakonie ist das Gebot der Stunde“, sagt Cornelia Coenen-Marx. Gerade Kirchengemeinden haben das Potenzial, das Miteinander, „eine neue Familiaritas zu entwickeln, wo Familien in der mobilen Gesellschaft ihre überkommenen Funktionen nicht mehr erfüllen können“, so die Expertin. „Zwar fehlen die alten Gemeindeschwestern, die Familien und Nachbarschaften kannten und Netzwerke im Quartier knüpfen konnten. An ihrer Stelle entstehen aber neue Initiativen von ehrenamtlich Engagierten, oft zusammen mit professioneller Unterstützung von Diakonie und Erwachsenenbildung. Leihomas, Mentoren, neue Kontakte zwischen Altenzentren und Kindergärten tragen dazu bei, dass Wahlfamilien entstehen.“
Kraft schöpfen aus dem Miteinander
Die Häufung und Überlagerung von Krisen verschärft aktuell gesellschaftliche Spannungen, so Coenen-Marx mit Blick auf Pandemie und Krieg, Wirtschafts-, Energie- und Klimakrise. „Notwendig sind neben sozialpolitischen Maßnahmen und einem steuerlichen Lastenausgleich Angebote, die die Teilhabe stärken, wie Schulsozialarbeit, Quartiersarbeit, und solche, die zur Integration von Geflüchteten und Migranten beitragen“, sagt Cornelia Coenen-Marx. „Hier sind die Kirchen besonders gefragt – sie haben Gebäude vor Ort, dazu hauptamtliche Mitarbeiter und eine gute Vernetzung im Quartier.“
Woraus können Menschen in dieser Zeit Kraft schöpfen? „Die Hochaltrigen erinnern sich daran, dass sie in Krisenzeiten in die Kirche gingen; genau das war aber in Corona nicht möglich“, antwortet die Seelsorgerin. Zoom-Konferenzen und Telefondienste haben dieses unmittelbare Miteinander nicht ersetzt. „Das wird nun nicht ,von selbst‘ wieder aufblühen“, sagt Coenen-Marx. „Es muss mit neuen Formaten eingeübt werden, zum Beispiel bei Generationengesprächen – gern auch an dritten Orten wie Gaststätten, Gärten und Höfen.“ Dazu müsse es gottesdienstliche Angebote in der Stadt geben, wie Weihnachtswege oder Singen im Stadion.
Letztlich, davon ist Cornelia Coenen-Marx überzeugt, komme es für die Gegenwart und Zukunft von Gemeinschaft darauf an, voneinander und miteinander zu lernen. „Dabei geht es heute nicht nur um die Weitergabe von Traditionen, sondern mehr als in früheren Zeiten um die Erschließung der Zukunft.“ Kinder und Jugendliche mit ihren Erfahrungen, ihren Fragen und ihren Ideen sind dabei ernst zu nehmen und zu unterstützen. Dazu bedarf es Offenheit und eines Sich-Einlassens. Cornelia Coenen-Marx gibt ihren Leserinnen und Zuhörern eine Impulsfrage mit: „Haben wir den Mut einer frischen, jüngeren Generation zuzuhören, Verantwortung zu übertragen, sie zu stärken und zu unterstützen, Neues zu wagen, uns wieder zum Mitmachen zu motivieren, zu überzeugen und gemeinsam mit ihnen zu lernen?“
Foto(s): Peter Wirtz