You are currently viewing Kritisch beleuchtet: die ‚Umgestaltung des Sozialstaates‘ nach den Wünschen von Olaf Scholz

Kritisch beleuchtet: die ‚Umgestaltung des Sozialstaates‘ nach den Wünschen von Olaf Scholz

Uwe Becker, Pfarrer und Leiter des Sozialwerks, hat einen interessanten Aufsatz verfasst, der sich kritisch mit den „13 Thesen für die Umgestaltung des Sozialstaates und die Zukunft sozialdemokratischer Politik“ auseinandersetzt, die SPD-Generalsekretär Olaf Scholz am 16. Juli 2003 im Berliner Willy-Brandt-Haus vorgetragen hat – nicht ohne dafür auch Kritik aus den eigenen Reihen einstecken zu müssen.

Die strukturelle Krise des Faktors Erwerbsarbeit wird mit einem Mangel an Handlungskompetenz konfrontiert
Hier Beckers Einleitung: „Die seit fast dreißig Jahren anhaltende Strukturkrise auf dem Arbeitsmarkt erreicht mit einer diesjährigen durchschnittlichen Jahresarbeitslosenzahl von 4,4 Millionen Menschen einen ihrer ‚Spitzenwerte‘. Die rhetorischen Bemühungen, dieser Faktenlage durch gegenteilige Prognosen zu begegnen, sind bislang kläglich gescheitert und waren teilweise schicksalsträchtig für ihre prominenten Wortführer. Angefangen von der Prophezeiung einer Halbierung der Arbeitslosenzahl bis zum Jahre 2000, über die Prognose ihrer Reduzierung auf 3,5 Millionen bis 2002, sind wir inzwischen mit Verweis auf die Hartz-Reformen wiederum bei der Einschätzung angelangt, eine Reduzierung der Arbeitslosenzahlen auf die Hälfte sei bis zum Jahre 2005 möglich. Unabhängig davon, dass die vergangenen Annahmen sich nicht bestätigt haben und die gegenwärtige Prognose völlig unseriös ist, zeigen allein diese Versuche, dass die strukturelle Krise des Faktors Erwerbsarbeit die jeweils herrschende Regierung mit einem Mangel an Handlungskompetenz konfrontiert und sie in Legitimationsprobleme verstrickt. Dass die Arbeitsmarktkrise dazu in der Lage ist, ist wiederum nur ein negatives Indiz für den Wert der Erwerbsarbeit, den unsere Gesellschaft ihr zumisst. Statt aber diese Stellung auch von politischer Seite einmal kritisch in Frage zu stellen, betreibt die Politik – allen voran die SPD – eine überdimensioniert hohe Bewertung von Erwerbsarbeit bei gleichzeitiger Registrierung ihres Mangels.“

Die Politik entpflichtet sich
Den Scholz’schen Thesen unterstellt Becker eine ganz eigene – und nur den vordergründigen Interessen der regierenden Partei(en) dienende – Ideologie, eine „eigens zum Zweck der politischen Legitimation entworfene Logik und Theorie der Erwerbsarbeit.“ Die gipfelt erst einmal darin, dass „die Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien für die Aufnahme einer Arbeit“, etwa nach den „Reform“-Vorschlägen von „Hartz IV“ in einem „konträren Verhältnis zur systematischen Entpflichtung der Politik“ stehen, einer „Entpflichtung“, mit der sich Politik vor der „Gewährleistung eines effektiven Zugangs zur Arbeit“ drücken will, ja, diese „Entpflichtung“ sogar zum „Gebot der Gerechtigkeit“ hochstilisiert.

Nur die „Erwerbsarbeit“ zählt
Die Erwerbsarbeit wird – so Becker – “ mit einer enormen Funktionszuschreibung der Gewichtigkeit und Wertigkeit belegt“. Aber: Ob „die Gesellschaft im Stande ist, möglichst allen Menschen Teilhabechancen“ an dieser scheinbar einzig denkbaren Form von Arbeit zu geben, das stellt Scholz selbst in Frage. Daraus folgert Becker: So „wird der effektive Ausschluss von Menschen, die arbeitslos sind, als Produkt einer an ihre Belastungsgrenze gestoßenen Gesellschaft schon vorlaufend entschuldigt und die Politik zugleich von weiterer Gestaltungsverantwortung dispensiert.“

Wo bleibt die Gerechtigkeit?
W dabei dann die Gerechtigkeit bleibt? Die soziale Gerechtigkeit und/oder die Möglichkeit zu selbst bestimmtem Leben? Gerechtigkeit der Chancen oder „Verteilgerechtigkeit“ dieser Chancen? Arbeits-Alternativen und ihre Bewertung jetzt und in Zukunft? Wenn Uwe Becker Olaf Scholz – stellvertretend für das Denken unserer derzeitigen Regierung – richtig interpretiert, dann ist es höchste Zeit, für die Beantwortung dieser Fragen eigene Antworten zu suchen, sich nicht auf die Impulse von Hartz, Scholz und Co. zu verlassen.

Keine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
Noch einmal Uwe Becker: “ Zuzustimmen wäre Herrn Scholz, wenn er die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wirklich als das entscheidende Kriterium sozialer Gerechtigkeit angesetzt hätte. Dann aber wären alle Faktoren, nicht nur Erwerbsarbeit, sondern auch zivilgesellschaftliches Engagement, Nachbarschaftshilfe, Familien- und Sorgearbeit darauf hin zu bewerten, wie sehr sie diesem Zweck dienen. Stattdessen unterliegt die Kausalkette von der Selbstbestimmtheit des Lebens als Maßstab der Gerechtigkeit, die nur über die Teilhabe an der Gesellschaft zu leisten sei, welche wiederum nur durch Erwerbsarbeit gelingen kann, eindeutig dem Verdacht, nachlaufend der gegenwärtigen ‚Reformpolitik‘ der rot-grünen Regierung die theoretische Basis verschaffen zu wollen.“

Hier der komplette Aufsatz von Uwe Becker“

Tipp:
Die EKD hat wichtige kirchliche Texte zur „Diskussion um die Reformpolitik“ hier ins Netz gestellt.

Text: Becker/AL
Foto(s): ran