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HTML und CSS im Blindflug – Webdesign „inklusive“

„HTML und CSS im Blindflug. Einfache Webseiten von Hand für viele“ – so lautet der Titel einer Publikation von Dr. Arne Harder. Darin stellt der geburtsblinde Diplom-Psychologe Schritt für Schritt dar, wie man Webseiten gestalten und dabei auch die Bedürfnisse von Personen mit Behinderungen berücksichtigen kann. Interessierte lernen, wie mit Hilfe von HTML (Hypertext Markup Language – „Auszeichnungssprache für Textstruktur und Hypertext“) dem Text/Inhalt eine Struktur gegeben und die Strukturelemente mit CSS (Cascading Stylesheet – „sich aufteilende Musterdatei für die Textgestaltung“) präsentiert werden können. Als Ergebnis entstehen Webseiten, die auf unterschiedlichen Ausgabemedien sinnvoll erscheinen; sie sehen beispielsweise am PC-Bildschirm gut aus und sind ebenso verständlich, wenn Blinde sie mit Sprachausgaben anhören. Das Buch erhebt den Anspruch, diese Inhalte „´blutigen Laien´ des Gestaltens von Webseiten“ zu vermitteln. Um dem gerecht zu werden, ist es klar gegliedert und geschrieben. Es erscheint im Großdruck im Format DIN A4.


Unser Interview mit dem gebürtigen Kieler, Jahrgang 1961, der heute im Kölner Stadtteil Rodenkirchen lebt, informiert auch über die Motivation und Ziele des Autors.



Worauf zielt Ihre Publikation ab, welche Idee stand am Beginn?
Harder: Dahinter steht die Idee, „Lieschen Müller“ und „Otto Normalverbraucher“ die Grundlagen zu vermitteln, mit denen sie Webseiten schreiben lernen. Gleichzeitig sollen sie erfahren, wie man diese Seiten für Menschen mit Behinderung anpasst.

Was heißt das konkret?
Harder: Dass sie lernen, die Bedürfnisse von blinden, sehbehinderten, hörbehindertenund lernbehinderten Menschen zu berücksichtigen.

Sie zeichnen verantwortlich für Konzept und Text. Laut Angaben haben Sie betreffend die fachliche Bearbeitung und Illustration Unterstützung erfahren.


Harder: Die fachliche Bearbeitung hinsichtlich der technischen Standards hat, sozusagen als Vor-Lektor, Arnd Fricke aus Berlin übernommen. Von Rainer Hannweg in Pinneberg stammen die Graphiken mit den technischen Erläuterungen. Die Kölnerin Sigrid Nickel schuf die künstlerischen Illustrationen. Sie singt wie ich im Chor „Voices of Joy“ an der evangelischen Erlöserkirche in Rodenkirchen, geleitet von der Gemeindekantorin Barbara Mulack.

Wie kam es zum Buchprojekt?
Harder: Das Ganze geht zurück bis 2009. Damals befand ich mich in einer Reha-Einrichtung für Blinde im Berufsförderungswerk in Düren. Ich hatte mich seit längerer Zeit mit HTML beschäftigt. Da ich wieder mehr in der Lehre arbeiten wollte, bot ich in der Einrichtung, einen entsprechenden Kurs zur Vermittlung von Medienkompetenz an. Mit gutem Erfolg. Am Ende habe ich den Teilnehmenden ein Skript von achtzig Seiten zur Verfügung gestellt. Anschließend kam einer der Besuchenden und meinte: „Jetzt hast du so viel geschrieben, da kannst du ebenso ein Buch draus machen.“ Da habe ich mir gesagt: Wenn das für Blinde funktioniert, könnte das auch für andere funktionieren, also ein Buch für Jederfrau und Jedermann.

Was hat es mit dem Schlagwort „Blindflug“ im Titel auf sich?
Harder: Das habe ich für meine neue Methode eingeführt. Erstens ist der Autor blind. Zweitens sollen die Leserinnen und Leser ihre Webseiten mit den möglich einfachsten Editoren Codezeile für Codezeile schreiben. Während sie das tun, sehen sie nicht, wie das Ergebnis im Web wirken wird. Dafür müssen sie in einen Web-Browser gehen und sich das ansehen. Das sollen sie auch tun, um schrittweise den Code den Bedürfnissen der Nutzerinnen und Nutzer ihrer Webseite anzupassen. Also schreiben sie ihre Webseiten mehr oder weniger blind.

Worin unterscheidet sich Ihre Publikation von verwandten, was ist das Neue?
Harder: Das Neue liegt in der Darstellungsmethode und in einer anderen Bewertung des Begriffs „Barrierefreiheit“.

Worauf zielt Ihre neue Methode?
Harder: Damit werden den neuen Webautoren die Schwierigkeiten bewusst gemacht, die Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen beim Lesen und Erfassen von Webseiten haben. Ein Beispiel: Dadurch, dass die Leute Codes schreiben müssen, werden ihnen zahlreiche Flüchtigkeitsfehler unterlaufen. Das ist keine Schande. Auch das passiert Menschen, die aufgrund eines weniger gut funktionierenden Gehirns Schwierigkeiten mit der Verarbeitung von Informationen haben. Wer zum x-ten Mal denselben Code notiert, wird überlegen, simpel zu schreiben. Damit kommt man den Menschen näher, die eine einfache Struktur, und die sogenannte „leichte Sprache“ brauchen.

Inwiefern bewerten Sie den Begriff Barrierefreiheit neu?
Harder: Am besten verdeutliche ich das anhand des Buches. Wäre es barrierefrei, könnten alle Menschen mit den aktuellen Techniken einschließlich der Hilfsmittel für Behinderte auf dessen Inhalte in wirtschaftlich vertretbarer Zeit zugreifen.

Sie sprechen also von einer relativen Barrierefreiheit?
Harder: Stimmt. Es liegt ja in Normalschrift vor, die Blinde nicht lesen können. Andererseits ist die Schrift so groß, daß es ältere Menschen und einige Sehbehinderte mit normalen Lesebrillen gut erfassen können.

Trotzdem sind Blinde von Ihren Informationen nicht ausgeschlossen…
Harder: …nein, Vollblinde oder stark Sehbehinderte haben die Möglichkeit, nach Kauf des Buches über die dort angegebenen Zugangsdaten die entsprechende Webpräsenz zu finden. Diese Webversion kann man sich mittels einer Sprachausgabe oder einer Braillezeile ausgeben lassen. Es gibt auch kostenlose Screenreader (Bildschirmausleser). Die Zugangsdaten müssen sich die blinden Nutzenden allerdings von einem Sehenden vorlesen lassen. Das dauert keine fünf Minuten. Diese Barriere haben die Mitarbeitenden des Verlages und ich drin gelassen, um uns die Bucheinnahmen zu sichern.

Wie verträgt sich diese relative Barrierefreiheit mit Ihrem Anspruch?
Harder: Barrierefreiheit im höchsten Maße können nur die Profis garantieren. Und die gehen von den Möglichkeiten der Technik aus. Ersatzweise habe ich die Webpräsenz in HTML und CSS Codezeile für Codezeile „von Hand blind“ ausgezeichnet. Auch Menschen mit älteren Hilfsmitteln können das lesen, wenn sie die erste Barriere überwunden haben.

Dann geht Ihre Herangehensweise über Barrierefreiheit hinaus?
Harder: Im Prinzip ja. Aber die international anerkannten Vorschriften der Barrierefreiheit bilden in der Welt des Web-Designs Gott sei Dank oft den Standard, und daran gehen die Empfehlungen aus meinem Buch teilweise vorbei. Mir geht es um die Nutzerinnen und Nutzer. Um es schlagwortartig und nicht allen gerecht werdend zu sagen: Web-Designer, die barrierefrei gestalten, haken auf einer Liste die Standards ab, die sie eingehalten haben. Mir kommt es darauf an, dass die Gestaltenden einer Webseite einige freiwillige Nutzerinnen und Nutzer ihrer Webseite bei der Arbeit damit beobachten und dabei herausfinden, wo es für diese Testnutzer/innen noch klemmt. Danach fügen die Webseitengestalterinnen und -gestalter Verbesserungen ein und testen das Ergebnis erneut, bis alle zufrieden sind. Noch plakativer: Barrierefreiheit stellt die Technik in den Vordergrund, und ich die Nutzerin oder den Nutzer.

Trotzdem halten Sie Barrierefreiheit nicht für überflüssig?
Harder: Oh nein, sie ist keineswegs überflüssig. Meine eigenen Empfehlungen entsprechen meist den anerkannten Standards, und wo das nicht der Fall ist, geht es um die Nutzung durch Menschen mit veralteter Technologie. Ich versuche Anfängerinnen und Anfängern einfache und überall funktionierende Techniken der Webseitengestaltung beizubringen und sie dabei für die Bedürfnisse von Menschen zu sensibilisieren, die einen veränderten Informationszugang benötigen.

Gibt es bereits Rückmeldungen zu Ihrem Buch?Harder: Bei Web-Designern gilt es als umstritten und nicht zeitgemäß. Sie stören sich daran, dass ich wiederholt Empfehlungen gebe, die auf veralteter Technologie basieren. Andererseits hat eine blinde Web-Bloggerin mein Buch ausführlich rezensiert und für gut befunden.

Ihre Publikation ist also als ein Beitrag auch zum Thema Inklusion, zur Nutzermöglichkeit und -gerechtigkeit von Webseiten ebenso von Einrichtungen und Organisationen, beispielsweise der Kirche, zu verstehen.


Harder: Das ist richtig. Wie gut zugänglich für Menschen mit Behinderung sind denn tatsächlich Webseiten der Kirche? Fordert nicht gerade das Christentum, dass Kirche auch ihre Publikationen auf die Schwächsten hin ausrichtet? Könnte es nicht nützlich sein, bevor man sich mit der rein technischen Seite befasst, auch die Grundlagen noch einmal auf das Thema Nutzergerechtigkeit für alle zu überprüfen? Ich denke, dazu könnte mein Buch beitragen.

Arne Harder: HTML und CSS im Blindflug: Einfache Webseiten von Hand für viele, Filderstadt 2013, 244 Seiten, Verlagsgesellschaft W. E. Weinmann e. K., 34,95 Euro, ISBN 978-3-921262-71-9.

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich