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„Es gibt nur Einzelfälle und nichts anderes“ – die Inklusionsrhetorik auf dem Prüfstand

„Wie kann man einer Gesellschaft der Ausgeschlossenen entgegensteuern?“ Mit dieser Frage begrüßte Stadtsuperintendent Rolf Domning die rund 150 Gäste des Jahresempfangs. Kirchenverband und Kirchenkreise hatten dazu traditionell politische und kirchliche Repräsentanten aus der Kölner Region zum neuen Kirchenjahr in die Kartäuserkirche eingeladen. Auf seine Frage lieferte der Stadtsuperintendent auch gleich eine Antwort: „Indem man langfristig eine Kultur der Inklusion etabliert, die Vielfalt erträgt und fördert, die die individuellen Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe schützt und ausbaut und schließlich Brücken baut, auf denen die Marginalisierten und Präkarisierten zurück ins Leben finden.“ Die Grundidee inklusiver Pädagogik sei einfach: „Eine effektive Schule für alle!“ Doch die Inklusion ende nicht am Schultor, sondern greife noch viel weiter. „Es geht hier um einen gesellschaftlichen Prozess, der alle Lebensbereiche erfasst.“

Planung braucht Realitätskenntnis
Dies bestätigte auch Professor Dr. Rainer Dollase in seinem Vortrag über „Die sprachliche Missachtung der Wirklichkeit – oder: die Inklusionsrhetorik auf dem Prüfstand“. Viele, die Inklusion gefordert hätten, seien jetzt von der Realität enttäuscht, meinte der Psychologe, der von 1970 bis 2010 in der Lehrerausbildung und -forschung an den Hochschulen Aachen, Köln, Essen, Bielefeld und Karlsruhe tätig war. Zu Beginn seiner Power-Point-Präsentation – mit der er das Publikum in den Kirchenbänken immer wieder zum Lachen brachte – nannte der 70-Jährige drei Beispiele für Fehlplanung: den Bischofssitz in Limburg, die Elbphilharmonie in Hamburg und den Berliner Flughafen. Bei der Planung habe die Realitätskenntnis gefehlt, weil die Verantwortlichen „eher am PC sitzen als vor Ort die Entscheidungen zu treffen.“

„Das muss man vormachen“
Dies treffe so ähnlich auch auf die Inklusion zu: „Warum gab es am Anfang der Inklusionsbewegung keine Modellprojekte und Hospitationen? Warum nur verbale Informationen als Versuch, die Realität zu steuern?“ Als praktisches Beispiel nannte er das Binden von Schnürsenkeln: „Das muss man vormachen. Manchmal ist es besser, einen Film zu zeigen, statt etwas nur verbal zu beschreiben.“ Ein weiteres Problem sei das Schubladendenken: „Im gegenwärtigen Inklusions-System gibt es lauter Etikettierungen, also genau das, was die Inklusion eigentlich verhindern soll.“ Es müsse der jeweilige Einzelfall betrachtet werden, „denn jeder Einzelfall ist komplett anders.“

Mehr Personal und kleinere Klassen
Mit Blick auf die Schule forderte Dolasse vor allem mehr Personal: „Wir brauchen multiprofessionelle Teams, die das Lehrpersonal ergänzen, und eigentlich banal“, räumte er selbst ein, „kleinere Klassen.“ Entscheidend bei der Inklusion sei das Sozialverhalten des einzelnen und nicht ob jemand körperbehindert sei oder nicht. „Inklusion mit der Inklusion der Körperbehinderten zu begründen, ist billig und geschmacklos.“ Sein Ziel sei eine „sanfte“ Inklusion: „Es gibt nur Einzelfälle und nichts anderes.“

„unterschiedlichkeitssensibel“ denken
In seinem Grußwort wünschte sich Bürgermeister Manfred Wolf eine Stadt, die lernt „unterschiedlichkeitssensibel“ zu denken und zu handeln. „Wir haben uns hierzu in Köln viel vorgenommen“, meinte er mit Blick auf die neue Dienststelle für das ‚Diversity -Management‘. Mit einer Orgelimprovisation zum Thema Inklusion – bestehend aus musikalischen Versatzstücken aus Pink Floyds „The Wall“, Michael Jacksons „We are the world“ und der Titelmelodie der Muppets Show beendete Kantor Thomas Frerichs den offiziellen Teil des Jahresempfangs. Das Thema Inklusion setzten Gastgeber und Gäste bei den Gesprächen am Buffet im Haus der Evangelischen Kirche fort.

Text: Martina Schönhals
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