Vielleicht denken wir ja, wenn wir einen obdachlosen Menschen sehen, dass uns dieses Schicksal nie ereilen könnte. Doch mit diesem Blick sollten man die Männer und Frauen, die ein Leben am Rand der Gesellschaft führen, durch unglückliche Umstände oder Schicksalsschläge auf der Straße gelandet sind, nicht betrachten. Denn manchmal passieren die ersten Schritte Richtung Abrutschen fast unmerklich. Doch dank der Überlebensstation GULLIVER im Bahnbogen 1 am Kölner Hauptbahnhof, der die diesjährige Diakoniespende des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region zugutekommen wird, finden Menschen mit vielfältiger Unterstützung wieder in ein abgesichertes, selbstbestimmtes Leben zurück.
So wie Richard Rozniatowski. Der 53-Jährige schildert mit schonungsloser Ehrlichkeit, wie er allmählich feststellte, dass er sein Leben nicht mehr im Griff hatte. Wie er vor vier Jahren endgültig alles verlor und sich Anfang 2020 vor der Tür des GULLIVER wiederfand. Damals passten alle seine verbliebenen Besitztümer in eine einzige Tragetasche.
Heute ist Richard eine der tragenden Kräfte im GULLIVER, wie Bernd Mombauer, Geschäftsführer des Kölner Arbeitslosenzentrums (KALZ) das als Träger der Überlebensstation fungiert, betont. Er hat einen Vollzeitarbeitsvertrag als einer von zwei Vorarbeitern und kümmert sich um ein Team von sieben Mitarbeitenden.
Obdachlose brauchen Rückhalt und Stabilität
Wenn der Vertrag in zwei Jahren ausläuft, so hoffen Sebastian Ebert, Diplom-Sozialpädagoge im GULLIVER, und Bernd Mombauer kann sich der Maschinenbauingenieur wieder in den Arbeitsmarkt eingliedern. Auch eine Wohnung im selbstverwalteten Wohnungslosenprojekt „Obdachlose mit Zukunft (OMZ)“ in Köln-Deutz hat er beziehen können. Er lacht, als er erzählt, dass er dort von den anderen „Papa Rich“ genannt wird, viel Besuch bekommt und sich als „Ersatzpapa“ um vier junge Frauen kümmert. Denn, so sagt er nachdrücklich: „Auch Obdachlose brauchen Rückhalt und Stabilität.“
In der Rückschau wird er ernst, berichtet offen, dass er Familie, Haus, Freunde, Auto und Job verlor, weil er zu viel trank. „Es gab immer Wodka. Zuerst zur Entspannung. Dann, um nicht mehr denken zu müssen.“ Geboren wurde Richard Rozniatowski in Warschau. Dort studierte er, wurde Ingenieur Fachrichtung Maschinenbau, arbeitete als Experte für alle Fragen, die Hydraulik betreffen unter anderem für eine polnische und eine schwedische Firma. „Im Laufe der Jahre war ich in Schweden, England, Belgien und Holland eingesetzt.“ Einer glänzenden Karriere stand im Grunde nichts im Weg. Richard heiratete, zwei Töchter wurden geboren.
„Meine Familie ist jetzt hier, im GULLIVER“
Doch der Wodka funkte immer wieder gnadenlos dazwischen. „Ich dachte, das Leben wäre mit Alkohol leichter. Doch da war ich schon mitten in der Abwärtsspirale“, berichtet er. Kollegen sagten, sie würden es mal in Deutschland probieren, der Verdienst sei dort gut. Der 53-Jährige schloss sich an, fand einen Job, kündigte dann aber: „Ich habe wieder getrunken und konnte die Verantwortung für mich nicht mehr übernehmen.“ Als Folge war die Wohnung auch weg, vor vier Jahren wurde Richard Rozniatowski endgültig obdachlos. Er campierte im Kölner Volksgarten mit Isomatte und Schlafsack, versuchte über das Sammeln von Pfandflaschen an etwas Geld zu kommen. „Zu meiner Familie in Polen ist über diese Jahre der Kontakt völlig verloren gegangen. Ich fühlte mich als Vater ohnehin minderwertig, darum habe ich nie versucht, mich wieder zu melden.“ Heute ist er überzeugt: „Meine Familie ist jetzt hier, im GULLIVER.“
„Hier bekam ich eine Chance“
Das GULLIVER, ist der 53-Jährige sicher, war seine Rettung. „Hier bekam ich eine Chance. Ich habe geputzt, Wäsche gewaschen, was anfiel einfach gemacht und einen Deutsch-Intensivkurs besucht.“ Noch immer, gibt er zu, falle ihm das Deutsche schwer. Doch im Alltag, bei der Organisation der Einsatzpläne, beim Bestellen von Lebensmitteln und in der Absprache mit den Mitarbeitenden erweitern sich seine Kenntnisse kontinuierlich. Außerdem: „Ich bin ein Mensch, dem Kommunikation leichtfällt – vielleicht funktioniert es deshalb so gut mit meinem Team.“
„Richard schafft das“
Dafür, dass er durch zwei Zweijahresvertrag als Vorarbeiter wieder krankenversichert ist, ist er sehr dankbar. „Ich bin dieses Jahr an Covid 19 erkrankt. Und möchte mir gar nicht vorstellen, wie es ausgegangen wäre, hätte ich noch auf der Straße gelebt.“ Am liebsten würde Richard Rozniatowski, der sich strikt vom Alkohol verabschiedet hat, weiterhin im GULLIVER arbeiten, doch der Vertrag läuft 2024 aus und Bernd Mombauer schaut voller Zuversicht in die Zukunft: „Richard schafft das. Er findet endgültig zurück ins Leben, wird bestimmt auch den richtigen Job finden.“
Das Besondere an der Diakoniespende: Bis zu einem Spendenaufkommen von 100.000 Euro verdoppelt der Evangelische Kirchenverband Köln und Region die Summe.
Foto(s): Matthias Pohl