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Begegnung mit drei Überlebenden aus Buchenwald in der Lindenthaler Paul-Gerhardt-Kirche

Konzentrationslager Buchenwald, Baracke 57, vier Tage nach der Befreiung durch die 8. amerikanische Armee liegen neben vielen weiteren hundert Menschen auch die damals einander unbekannten Naftali G. Furst, Nikolaus Gruner und Max Hamburger in den engen, vierstöckigen Holzpritschen-Verschlägen. Entkräftet, ausgezehrt. „Plötzlich gab es ein helles Licht, so etwas hatte ich noch nicht gesehen“, beschreibt Gruner. Dass es vom Blitzgerät eines amerikanischen Fotografen stammen könnte, dass er fotografiert werden würde, habe er sich nicht vorstellen können. In den sechziger Jahren besucht der inzwischen in Schweden lebende Gruner das Kriegsmuseum in Kopenhagen. Auf einem der Foto-Exponate, eines von denen, die „um die Welt gegangen sind“, glaubt er sich selbst zu erkennen. Der Museumsleiter bestätigt seine Vermutung. „Ich war so glücklich“, erinnerte er nun in der evangelischen Paul-Gerhardt-Kirche.

Bemerkenswert viele Jugendliche hörten zu
Auf dem Podium neben ihm saßen seine beiden Leidensgenossen. Vor über einem Jahr erst hatten sie sich durch die Initiative einer Journalistin persönlich kennengelernt. Das war auf der Gedenkfeier anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung von Buchenwald. Jetzt, am Vorabend des 9. November, berichteten die jüdischen Zeitzeugen auf Einladung des Forums Paul-Gerhardt-Kirche der Evangelischen Kirchengemeinde Köln-Lindenthal über ihr Schicksal und teils späteren Werdegang. Vor zahlreichen Besuchern, darunter bemerkenswert viele Jugendliche, dankte Moderatorin Pfarrerin Ulrike Gebhardt den drei Männern für ihren Besuch. Er sei ein Geschenk, sagte sie, „auch weil sie in unsere christliche Kirche gekommen sind“. Ihr Dank galt ebenso der bildenden Künstlerin Christiane Rohleder, die seit Jahren mit Hamburger zusammenarbeitet und maßgeblich am Zustandekommen und der Durchführung der Veranstaltung in Köln beteiligt war. Zudem leitete ein von ihr konzipierter, meditativer Film, in dem unter anderem das besagte Foto zu sehen ist, den Abend ein.

„Es wäre besser, man sterbe“
Es wurde eine aufschlussreiche Begegnung, in deren zweistündigen Verlauf die ehemaligen KZ-Gefangenen über ihre unterschiedlichen persönlichen Geschichten und doch ähnlichen Erfahrungen informierten. Dabei gingen sie auch auf Besucherfragen ein. Sie schilderten die endgültige Trennung von Mutter und Vater, die auch seelischen Misshandlungen durch ihre Peiniger, den zwiespältigen Umgang unter den Gefangenen. Sie erzählten zugleich plastisch und trotzdem weitgehend die Gemüter der Zuhörenden schonend von den unvorstellbar schlechten hygienischen Verhältnisse in den Lagern, vom ständigen Hunger. „Jeden Tag eine Suppe mit einem Stück Brot, aber kein Löffel, so dass häufig etwas verschüttet wurde, kein Wasser zum Trinken, manche sagten, es wäre besser, man sterbe“, beschrieb Furst.

Von der Schwierigkeit, Deutschland wieder zu besuchen
Sie sprachen auch von ihrer einstigen Abneigung, jemals wieder Deutschland zu besuchen. „Das konnte ich mir nicht vorstellen“, sagte der heute in Malmö ansässige Gruner. Nach vielen Jahren und kleineren Besuchen, während der er weder die deutsche Sprache habe vertragen, noch „die Leute hier angucken“ können, sei er unter anderem von Christiane Rohleder von einem längeren Aufenthalt überzeugt worden, auch um hier über seine Vergangenheit zu berichten. „Das Gefühl für die elterliche Kultur, Mutter und Vater haben mich deutsch erzogen, kommt wieder, auch für die deutsche Sprache“, erzählt Gruner. „Vielleicht funktioniert es oder es geht nicht.“ Der in Haifa lebende Furst hatte in Buchenwald entschieden, nicht nach Deutschland oder Polen zurückzukehren. „Ich hatte bis dahin auch nicht über die Kriegserlebnisse gesprochen. Als mein ebenfalls überlebender Bruder, der viele Menschen über die Zeit informiert hat, nun gestorben ist, habe ich mir gesagt, das muss ich fortsetzen.“ Ermutigung habe er durch seine beiden „neuen Brüder“ erfahren, denen er 2005 auf der Feier in Buchenwald begegnet sei.

Verluste und das Erleben völliger Entmenschlichung
„Im April 1945 wurde ich mehr tot als lebendig befreit“, begann Dr. med. Hamburger. „Ich war so geschwächt, dass ich gar nicht mehr gehen konnte. Das gute amerikanische Essen konnten mein Magen und Darm nicht ertragen. Ich bekam das Gefühl, wenn ich jetzt einschlafe, erwache ich nicht mehr. Aber ich wollte mir nicht erlauben zu sterben. Weil ich dann nicht hätte bezeugen können, was passiert ist. In jener Nacht kämpfte ich mit dem Tod.“ Die mit dem Verlust der Familie, von Verwandten und Freunden, mit dem Verlust der alten jüdischen Gemeinschaft, mit dem Erleben völliger Entmenschlichung einhergehenden psychischen Traumata habe er erst vor kurzem vollständig verarbeitet. Hamburger, Jahrgang 1920, wurde in Amsterdam geboren. Sein dort 1938 aufgenommenes Medizinstudium fand 1942 ein jähes Ende: Die deutschen Besatzer untersagten jüdischen Studenten ihre Ausbildung fortzusetzen. Als sich Hamburger als Assistenzarzt im Jüdischen Krankenhaus weigerte, an der Sterilisation von niederländischen Juden mitzuwirken, musste er untertauchen und wurde schließlich verraten.


„Der Tod hat nicht das letzte Wort, wohl aber das Leben“
Aus dem niederländischen Internierungslager Westerbork führte Hamburgers Deportation zunächst nach Auschwitz, später nach Thannhausen, Groß-Rosen und Buchenwald. Den Zustand der erniedrigten Gefangenen beschrieb er als totale Verlassenheit, Aussichtslosigkeit und Dahinvegetieren. Man habe all seine Energie benötigt, dem Hunger, der Kälte, den Krankheiten, Misshandlungen und letztlich der Gaskammer die Stirn zu bieten. Nach der Befreiung sei zunächst keine Zeit geblieben, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, so Hamburger, der allein fünf Jahre für seine körperliche Genesung benötigte. „Eine neue Welt musste aufgebaut werden.“ Auch seine eigene. Es gelang ihm mit dem Abschluss seines Studiums, seiner Tätigkeit als Mediziner, dem Aufbau einer wissenschaftlichen Karriere und der Gründung einer Familie. Dreißig Jahre nach Kriegsende ereilte ihn eine Krise. „Der Grund war die Beschäftigung mit dem Tod meiner in Auschwitz vergasten Mutter“, so Hamburger. Darüber wurde ihm seine Arbeit als Psychiater und Therapeut von Kriegsopfern und -waisen zu schwer. 1976 siedelte er nach Limburg (NL) über, wo er seine Tätigkeit eingeschränkt in einer Klinik fortsetzte sowie zeitgleich Verbindung zum jüdischen Lehrhaus in Maastricht aufnahm. Darüber entstanden wiederum ab 1982 im Dreiländereck neue Kontakte nach Deutschland, die sich mit den Jahren zu diversen Begegnungen und Gesprächsreisen ausweiteten. „Schweigen wäre ein Verrat an denen, die nicht mehr sprechen können“, nannte Hamburger in Köln seine Motivation, über das Erlebte zu sprechen. „Der Tod hat nicht das letzte Wort, wohl aber das Leben.“

Die Geschichte einer einzigen Nacht:
Furst kam 1942, mit neun Jahren, in ein Lager in der Slowakei. Von dort wurde er mit Vater, Mutter und dem ein Jahr älteren Bruder nach Auschwitz-Birkenau transportiert. In das „Kinderlager“ des KZ Buchenwald kam er 1945 mit einem der Todesmärsche. Insgesamt wurde er 1033 Nächte in insgesamt vier KZ gefangengehalten. Diese Erfahrung habe nicht nur einen großen Schatten, sondern eine Narbe hinterlassen. „Aber ich habe viel Glück gehabt“, sagte er angesichts von vielen Hunderten von schrecklichen Erlebnissen. Für die Zuhörer in Lindenthal hatte er einen kurzen Bericht verfasst, der die Nacht vom 2. auf den 3. November 1944 betrifft, die Nacht des Transportes auch seiner Familie nach Auschwitz. Zuvor hätten die Eltern die Flucht aus dem fahrenden Viehwaggon bis ins kleinste Detail geplant. Doch als der Vater die Türen öffnen wollte, hätten ihn Mitfahrende aus Angst vor Konsequenzen daran gehindert. „Die ganze Zeit vorher war ich zuversichtlich“, schildert Furst. Doch dann, in völliger Dunkelheit, ohne Wasser und Toiletten und bei unerträglichem Gestank sei er ängstlich geworden. Im sei klar geworden, dass in wenigen Stunden die Ermordung drohe. Am Zielort hätten dann wiederum Dunkelheit, Kälte und die brutalen SS-Männer mit ihren laut bellenden Hunde die Furcht vergrößert. Gleichwohl habe er sich die ganze Zeit der Worte seines Vaters erinnert: „Das müssen wir überstehen.“ Dies sei die Geschichte einer einzigen Nacht gewesen, doch der Albtraum habe sich fortgesetzt

„Ich hätte nie gedacht, dass ich überlebe“
Gruner sagte, er sein Buchenwalder. „Ich habe das Gefühl, dass ich dort geboren bin.“ Als er mit 15 Jahren befreit wurde, wog er 25 Kilogramm. Danach verbrachte er drei Jahre in einem Sanatorium in der Schweiz und nutzte die Freiheit, um sich kulturell weiter zu bilden und um zu verstehen „was Leben bedeutet“. Auch er war unter anderem in Auschwitz-Birkenau. Seiner Eltern wurden umgebracht. „Ich hätte nie gedacht, dass ich überlebe“, stellte Gruner fest.

„Wir waren eine normale Familie, sahen aus wie normale Menschen“
Warum das alles passiert ist, darauf hat auch Furst keine Antwort. „Wir waren eine normale Familie, sahen aus wie normale Menschen, haben nichts schlechtes gemacht.“ Er habe geglaubt, dass es einen Gott gibt, der hilft. Nachdem er dann in Auschwitz-Birkenau von Mutter und Vater getrennt worden sei, habe er nach Gott gefragt. „Ich habe ihn sogar beschimpft, dass er so etwas zulässt.“ Aber nichts sei geschehen. „Da habe ich meinen Glauben an Gott verloren.“ Hamburger meinte abschließend, man könne die Menschen der späteren Generation nicht verantwortlich machen für das, was damals passiert sei. „Sie sind nur verantwortlich für das, was heute passiert.“

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich