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Theologe und Journalist Curt Hondrich in der Lutherkirche

„Wir feiern diesen Gottesdienst, damit wir leben können“, sagte Pfarrer Hans Mörtter zu Beginn in der Lutherkirche. Das Thema „Kriegstraumatisierungen“ stand im Mittelpunkt dieses besonderen Gottesdienstes mit dem Motto „Die vergessene Generation“.

Wie traumatisiert sind wir Deutschen?
Mörtter hatte den Theologen und Journalisten Curt Hondrich eingeladen, der sich seit langem mit den traumatischen Folgen von Kriegen auch für die nachfolgenden Generation beschäftigt. „Wie traumatisiert sind wir in Deutschland, wie beziehungsfähig“, fragte Mörtter und schlug gleich einen Bogen zu aktuellen Ereignissen: „Wie reagieren wir auf die Vorkommnisse auf der Krim und in der Ostukraine? NATO-Generalsekretär Rasmussen fordert eine Aufrüstung des Westens. Also wieder nur Drohungen und Stärke. Unsere Reaktion auf Putin ist angstbestimmt.“

Fast jede Genration hat einen Krieg erlebt
Dann wandte man sich dem eigentlichen Thema zu. „Das Urtrauma in unserem Land ist der 30-jährige Krieg“, sagte Mörtter. Hondrich stimmte ihm zu: „Der 30-jährige Krieg war eine europäische Auseinandersetzung, die in Deutschland stattgefunden hat. Ein Drittel der hier lebenden Menschen fiel dem Krieg zum Opfer. Seitdem sind wir gezeichnet. Und seitdem hat bis zum Zweiten Weltkrieg fast jede Generation einen Krieg erlebt. Kriege gegen Napoleon, die Kriege rund um die Reichsgründung 1871, die beiden Weltkriege. Und die Traumata, mit denen die Betroffenen nicht umzugehen wussten, wurden den nächsten Generationen aufgebürdet.“

Die eigene Scham überwinden
Hondrichs zweites großes Thema ist die „Scham“. „Nach dem Ersten Weltkrieg war die Scham besonders groß. Man hatte auf das Kaiserreich gesetzt und hielt sich für unverwundbar. Und dann hatte man erlebt, dass die deutschen Soldaten starben wie die Ratten. Diejenigen, die zurückgekommen waren, waren verwundet, verletzt und gedemütigt. Viele hatten das 'Kriegszittern'. Die kamen nie wieder auf die Beine.“ „Die Deutschen hatten ihre Identität verloren. Und dann kam der Versailler Vertrag“, ergänzte Mörtter. „Ja. Und dann hat man versucht, die eigene Scham, über die man ja nicht spricht, dadurch zu überwinden, dass man sich selbst als überlegen aufspielt und andere beschämt. So geschehen im Terrorregime der Nazis gegenüber den Juden“, so Hondrich. Und nach dem Zweiten Weltkrieg habe wieder die Scham das Land beherrscht. Und wieder habe man geschwiegen und das Trauma an die sogenannten „Kriegskinder“ weitergegeben.

Kette der Beschämung wird fortgesetzt
„Womit Eltern nicht umgehen können, implantieren sie als Wunde an ihre Kinder“, lautet die These von Hondrich. Die Tradition der Kette der Beschämung und Traumatisierung sei fortgesetzt worden in der Adenauer-Republik mit ihrer Wertschätzung von Gehorsam und dem gleichen Komment, der schon unter den Nazis galt. „Die Kriegskinder nahmen die Stafette ihrer Eltern in die Hand.“ Mörtter erinnert sich an mehrere Beerdigungen, in deren Umfeld Söhne und Töchter bekannt hätten: „Wir haben unsere Eltern eigentlich gar nicht gekannt.“ Ein gutes Beispiel sei Rudi Dutschke: „Der hat zwar öffentlich die Elterngeneration und deren Schweigen scharf kritisiert. Aber zu Hause war er immer der liebe Sohn.“

Empathie von den Jüngeren nötig
Die 68er hätten auf die kollektive Scham mit dem Gegenteil reagiert: „Die Kommune 1 war schamlos.“ Was kann man tun? „Es finden ja Gott sei Dank mittlerweile Gespräche zwischen den Generationen statt. Beide Seiten sind da gefragt. Wir brauchen Empathie von seiten der Jüngeren. Und die Älteren müssen eine gewisse Größe haben, um sich der Auseinandersetzung auch mit sich selbst zu stellen.“ Und Putin? „Das ist ein klassischer Fall von einem gekränkten und gedemütigten Menschen. Die NATO wurde nach Osten erweitert. Putin überwindet die eigene Scham mit Aktionen, die andere im Westen beschämen. Das muss man sich klar machen. Und dann kann man mit ihm über die Lösung der Konflikte reden.“

Text: Stefan Rahmann
Foto(s): Stefan Rahmann