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Stadtsuperintendent: „Die Evangelische Kirche muss sich einmischen!“

Interview mit Stadtsuperintendent Rolf Domning über den christlichen Auftrag für Gerechtigkeit und die Verteidigung der Menschenrechte einzutreten.

Herr Domning, was bedeutet für Sie christliche Verantwortung in unserer Zeit?

Rolf Domning: Wir haben als Christinnen und Christen eine Verantwortung in der Welt und für die Welt. Da ist für mich ohne Frage eine Konsequenz christlicher Ethik. Wir sollen ein weites Herz für die Geringsten unter uns haben, besonders für die, die keine Fürsprecher und keine Lobby haben. Dass Gott selber uns im Nächsten begegnet, ist keine Romantik, sondern eine deutliche Parteinahme Gottes für Menschen in Not. Deshalb sind wir aufgerufen, nicht nur an uns und unser eigenes Wohlergehen zu denken. Wir sollen unseren Nächsten lieben. Aus diesem Selbstverständnis heraus sehe ich für uns Christen eine Mit-Verantwortung für gerechte gesellschaftliche Strukturen in unserer Gesellschaft. Weder ein gutes Investitionsklima noch Prosperität, sondern allein „Gerechtigkeit erhöht ein Volk“, wie es so schön heißt im Buch der Sprüche Salomos (Spr. 14,34). Ungerechte Strukturen gefährden letztlich den Zusammenhalt in der Gesellschaft und den Frieden. Verlieren wir also nicht den Nächsten aus dem Blick. Nur so werden wir unserer Verantwortung in der Welt gerecht. Das ist wichtig, manchmal auch gegen den Main-Stream.

Manche Menschen sagen aber: Kirche darf sich nicht in die Politik einmischen.

Rolf Domning: Christen sind Teil dieser Gesellschaft und am Meinungsbildungsprozess beteiligt. Wenn wir Verantwortung wirklich ernst nehmen, dann müssen wir uns sogar einmischen und manchmal auch unbequem sein. Wir können uns da nicht raushalten. Es ist unser Auftrag, christliche Grundwerte vom Evangelium her in die Gesellschaft einzubringen.

Gerade Politiker sagen oft: Mit der Ethik der Bergpredigt könne man keine Politik machen.

Rolf Domning: Die Bergpredigt ist sicher keine konkrete Anweisung für eine Sozialgesetzgebung. Aber sie bietet klare Impulse und zeigt Richtlinien auf. Also, wir sollen nicht nur Frieden in unseren Herzen haben, sondern Frieden in der Welt stiften. Für mich bedeutet dies, für Strukturen einzutreten, die Gerechtigkeit für alle Menschen schaffen. Ungerechte Strukturen stiften meist Unfrieden, bringen Gewalt hervor, bis bin zu Kriegen. Für uns als Christinnen und Christen bedeutet die Bergpredigt, dass wir für die Menschen eintreten, die bedroht sind, die sich wenig oder nichts mehr leisten können, aus welchen Gründen auch immer. Wer die Bergpredigt ernst nimmt, kann eigentlich nicht anders als sich dafür einzusetzen, dass jeder und jede menschenwürdig in unserer Gesellschaft leben kann. Diesen Gedanken können wir auch in der Diskussion um ein bedingungsloses Grundeinkommen wiederfinden. Die Teilhabe ist eine der wichtigsten Fragen für die Zukunft, und das nicht nur unter dem finanziellen Aspekt. Das betrifft auch die Frage, wie sich Menschen mit ihren persönlichen Fähigkeiten und Stärken in die Gesellschaft einbringen können. Wie heißt es so schön und konkret: „Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.“(Mt 5,6) Das hat alles einen Zusammenhang: das Zufrieden-Sein und das Satt-Werden. Das sollte Politik auf jeden Fall nicht aus dem Blick verlieren.

Im April beim Parteitag der AfD in Köln haben die katholische und evangelische Kirche in Köln gemeinsam zur Beteiligung an der Aktion „Unser Kreuz hat keine Haken“ aufgerufen. War das eine neue herausfordernde Situation für Sie?

Rolf Domning: Das war für mich schon immer ein wichtiges Thema. Wir müssen aus unserer Geschichte und aus der Zeit des Nationalsozialismus lernen. Wenn heute wieder der Begriff des Völkischen aus dem Giftschrank der Nazis hervorgeholt wird – und das tun ja Politiker der AFD – dann verwundert das schon sehr. Der Begriff wurde damals ganz eindeutig rassistisch und ausgrenzend verwandt. Damals sagten zu wenige Menschen ihr „Nein“! Und wenn, dann zu leise.

Heute müssen wir da ganz aufmerksam und hellhörig sein und daher ist es umso wichtiger, dass schon ersten ausgrenzenden oder rassistischen Ansätzen ein deutliches und klares Zeichen entgegengesetzt wird! Da waren wir uns in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen völlig einig. Deshalb: „Unser Kreuz hat keine Haken!“ Das war und ist durchaus provozierend, sicher auch pauschalierend. Aber einer Politik der Ausgrenzungen und Angstmacherei müssen wir aus unserem Glauben heraus deutlich entgegentreten. Es gab nach der Aktion viele Zuschriften, leider auch viele Hass-Mails. In denen wurde deutlich, dass die Klaviatur dieser alten Nazi-Ideologie noch immer hassschürend benutzt wird.

Mit der Angst vor Fremden und Gewalt wird augenblicklich Politik gemacht und die Frage drängt sich auf: In welcher Gesellschaft wollen wir leben?

Rolf Domning: Ängste werden heute oft gezielt geschürt, um daraus politisches Kapital zu schlagen und um die Bereitschaft für radikale Lösungen zu erhöhen. Durch die Nachrichten und Medien sind wir auch von entfernteren beängstigenden Ereignissen betroffen und spüren, dass das eigene Leben bedroht sein kann. Ich versuche die Menschen zu verstehen, die sich sorgen. Ich sehe dennoch das Erfordernis, immer wieder innere Ruhe zu finden. Es gibt Dinge, die haben wir nicht in der Hand, gegen die sind wir nicht gefeit. Das ist zum Beispiel der Preis einer offenen Gesellschaft, die ich absolut wertschätze und für die ich eintrete. Es ist daher wichtig, wieder eine Lebenshaltung zu finden, in der Vertrauen, Glaube, Gelassenheit, aber keineswegs Gleichgültigkeit gestärkt werden. Dann verliert die Angst wieder die Macht über uns. Wir sind in Gottes Hand, egal, was uns auch geschehen mag. Angst darf uns nicht zu einem Verhalten treiben, das unseren Grundwerten widerspricht, wie zum Beispiel das Ausgrenzen von Menschen oder Mauern bauen.

Wir stehen im September vor Wahlen. Manche Menschen sagen: Wir müssen unsere Demokratie und ihre Grundwerte stärken, manche sagen sogar „verteidigen“. Sehen Sie die Demokratie gefährdet?

Rolf Domning: Ich möchte in einer demokratischen Gesellschaft leben. Demokratische Errungenschaften dürfen keineswegs geopfert werden. Es geht um die Werte Gerechtigkeit, Toleranz, Menschenrechte, Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit. Da ist durchaus einiges in Gefahr, geschwächt zu werden. Das beginnt schon, wenn man DIE sagt, zum Beispiel „DIE Muslime“ oder „DIE Flüchtlinge sind so oder so“. Mit solchen Verallgemeinerungen werden ganze Menschengruppen über einen Kamm geschert und man tut ihnen Unrecht. Demokratie ist für mich die optimale Gesellschaftsform. Es ist gut, dass im Vorfeld von Wahlen wieder mehr diskutiert wird und jeder zur Meinungsbildung beitragen kann. Hier ist auch der Ort, über Menschenrechte und Gerechtigkeit zu sprechen. Hier müssen wir auch unsere Themen zur Sprache bringen und unseren christlichen Standpunkt formulieren. Positiv sehe ich auch, dass junge Menschen wieder politischer werden, sich engagieren und sich für Europa stark machen. Das macht mir große Hoffnung.

Einige Stimmen meinen, dass der Kapitalismus „evangelische“ Wurzeln habe und der Kapitalismus viel zum Ungleichgewicht in der Welt und auch in unserem Land beitrage. Wie sehen Sie das?

Rolf Domning: Ein Zweig, der Calvinismus, der beispielsweise in den Vereinigten Staaten stark ausgeprägt ist, hat das „Erfolgreich-Sein“ zum Nachweis dafür gemacht, dass man wohl ein „gesegneter Mensch Gottes“ ist. Außen vor bleibt da allerdings, dass ein Mensch auch anders reich sein kann, auch ohne ein dickes Bankkonto. Auch das ist ein Segen Gottes, für den wir dankbar sein sollen. Jede Art von Reichtum verpflichtet uns Christen, für andere da zu sein. Daher muss man sich zum Beispiel die Fragen stellen lassen: Auf wessen „Rücken“ ist der Reiche – oder sagen wir ruhig der Kapitalist, zu seinem Reichtum gekommen? Der sogenannte „Manchester-Kapitalismus“ gehört zwar in das vergangene Jahrhunderte und hatte keine sozialen Werte. Heute reden wir von Globalisierung, der Ungleichverteilung globaler Ressourcen, einem guten Investitionsklima. Es geht aber letztlich immer noch um Gerechtigkeit oder sagen wir ruhig „Love in Structures“. Es gibt eine absolute Verantwortung füreinander. Wir verdanken unser Leben Gott. Wir dürfen nicht verteufeln, dass es Menschen gut geht, aber dennoch müssen wir einen Blick für die Schwachen haben.

Welche Botschaft möchten Sie den Leserinnen und Lesern gerne mit auf den Weg geben?

Rolf Domning: Ich sehe für die Demokratie viele positive Hoffnungszeichen durch neue Aufbrüche, wie vielleicht die Wahlen in Frankreich. In der Politik zeigt das, dass verkrustete Strukturen aufgebrochen werden können. Veränderung ist möglich! Das gibt neue Hoffnung und macht neuen Mut, sich für eine offene Gesellschaft einzusetzen. Demokratie ist nicht nur von nationalem Interesse. Neben allen aktuellen nationalen Aufgaben müssen wir auch den ökonomischen Ausgleich schaffen. Das ist ein wichtiger Bestandteil des Weltfriedens, egal ob im eigenen Land, in Europa oder in der Welt. Dafür können wir uns alle einsetzen. Dafür müssen wir aber auch zur Wahl gehen. Und dazu möchte ich ermutigen.

Text: Hannelore Ruppert
Foto(s): Jürgen Schulzki