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Michael Mohr hat Besucher der Überlebensstation „Gulliver“ gezeichnet

Radieren würde nicht funktionieren. Die mit schwarzer Kugelschreiber-Mine gesetzten Linien ließen sich nicht entfernen. Und sie sollen stehen bleiben. Selbst wenn sie (zunächst) unpassend erscheinen. Alternativ auf einem unbeschriebenen Blatt einen neuen Versuch starten? Das kommt für Michael Mohr nicht in Frage. Konzentration also ist notwendig, wenn er Besuchende der Überlebensstation „Gulliver“ zeichnet, der Anlaufstelle für Wohnungs-, Arbeits- und Mittellose im Bahnbogen 1 der Kölner Hohenzollernbrücke. Umso mehr, als die künstlerische Umsetzung rasch erfolgen muss. Denn die meisten seiner Modelle können oder wollen ihm nicht lange sitzen. „Höchstens zehn, fünfzehn Minuten“, so Mohr, „dann werden sie ungeduldig.“ In der Regel aber genügt die kurze Spanne dem langjährigen Wahlkölner, um sein Gegenüber zu „erfassen“. Allein die Akzentuierung der Kuli-Zeichnungen mittels Buntstiften erfolgt nachträglich vor Ort oder im Atelier im südlichen Stadtteil Sürth.

200 Porträts von Gästen des Cafés
Mohr versteht sich in erster Linie als Maler gegenständlicher Bilder. Er weiß, dass eine Zeichnung nicht nur grundlegend für eine bildkünstlerische Betätigung sein kann. Über einen vorbereitenden, dienenden Zweck hinaus hat sie ebenso ihre Bedeutung als eigenständiges Ausdrucksmittel. Dies belegen einmal mehr die Graphiken, die der 59-Jährige in den letzten zwölf Monaten, jeweils an Wochenenden und Feiertagen, im „Gulliver“ zu Papier gebracht hat. Es handelt sich um mehr als 200 Porträts von mehrheitlich männlichen Gästen des Cafés im Obergeschoss der Überlebensstation. Ebendort werden 54 dieser Zeichnungen im Format 40 mal 30 Zentimeter ab dem 13. Januar 2012 zu sehen sein. „Köln-wohnungslos-gezeichnet“ lautet die 13-wöchige Präsentation.

Begegnungsort in der Stadtgesellschaft
„Gulliver“ wurde im Januar 2001 als Projekt des Kölner Arbeitslosenzentrums (KALZ) e.V. eröffnet. Gefördert durch Kirche, Politik und Wirtschaft, mitgetragen von bürgerschaftlichem Engagement, dient die Einrichtung seit nun elf Jahren als wichtige Anlaufstelle. Mit vielfältigen Angeboten für das körperliche, seelische und geistige Wohl. Dort finden Menschen ohne Wohnsitz unter anderem Duschen, Toiletten und Waschmaschinen vor. Es gibt ein Tagesschlafraum und eine Kleiderkammer, Beratungs- und Gruppenangebote. Im Café werden Frühstück, Abendessen und andere kleinere Mahlzeiten serviert. Ebenso werden dort kulturelle Veranstaltungen, darunter Kunstpräsentationen, organisiert. Sie sollen seit Bestehen des „Gulliver“ mit dazu beitragen, die Einrichtung als Begegnungsort in der Stadtgesellschaft zu verankern.

Die meisten zeigen sich aufgeschlossen
Insbesondere durch seine Besuche von Kulturveranstaltungen im „Gulliver“ hat Mohr diese Adresse schon früh als „eine tatsächlich überlebenswichtige Einrichtung“ kennengelernt. Dabei fragte er sich häufig, „was denn die ständigen Besuchenden, die Wohnungslosen als Hauptklientel, an den Präsentationen interessiert“. Sollte man nicht versuchen, wie es bereits in früheren „Gulliver“-Kunstprojekten unternommen wurde, eben diese regelmäßigen Gäste in den Mittelpunkt zu rücken? Hinzu kommt, dass Mohr seit jeher wenig Interesse verspürte, „Gefälligkeits-Bildnisse“ zu erstellen. Vielmehr reizt ihn die freie, subjektive Auseinandersetzung mit der geschauten Person. Und er hält insbesondere Darstellungen für erstrebenswert, „die etwas mit der wirklichen Identität des Gegenüber zu tun haben“. Bei seinen direkten Ansprachen an potenzielle Modelle im „Gulliver“-Café erntete Mohr zunächst manch skeptischen Blick. Doch das Eis war schnell gebrochen. „Auch wenn immer mal wieder Gäste, häufig Frauen, es ablehnen, von mir gezeichnet zu werden“, zeigt sich die Mehrzahl inzwischen aufgeschlossen.

Da geht der Daumen hoch oder auch runter
„Viele von ihnen genießen die Sitzungen sogar. Durch das Gezeichnet-Werden erleben sie eine ungewohnte, wohltuende Aufmerksamkeit“, glaubt Mohr. „Manch einer gibt seinen Senf dazu. Dann herrscht wieder aufmerksames Schweigen.“ Trotz des Treibens ringsherum, trotz der ihn kritisch beobachtenden Augenpaare erlebt der Zeichner in diesen Phasen eine eigentümliche Ruhe. Und wenn er sein Resultat vorzeigt, folgt sogleich das Urteil. „Da geht der Daumen hoch oder auch mal runter.“ Im „Gulliver“ zu zeichnen empfindet Mohr als eine ungeheure Herausforderung. „Das hier ist mitten im Leben. Hier treffen sich alle Charaktere und Typen. Da muss man auch als Künstler verbal einstecken können.“ Im Zusammenhang mit der Porträtreihe sind ihm Bedenken nicht fremd. Er möchte unbedingt den Eindruck vermeiden, die wohnungslosen Menschen zu „benutzen“. So sei es keineswegs sein vordergründiges Anliegen, die Blätter mit ihren Motiven zu veräußern.

Nie zuvor so intensiv mit dem Kugelschreiber Linien gesetzt
Mohr spricht von einer sehr prägenden Erfahrung. Er berichtet von zahlreichen Begegnungen und von durchaus intensiven Gesprächen über Privates und über „Gott und die Welt“. Auch über die Kunst. Auf manche Besucher wirkte der Kontakt mit dem Künstler geradezu motivierend. „Sie wollten selbst anfangen zu zeichnen. Fragten, wo man Papier und Stifte bekommt, erbaten praktische Tipps, etwa wie man eine Zeichnung anlegt.“ Erfreut registriert Mohr – „nie zuvor habe ich so intensiv mit dem Kugelschreiber Linien gesetzt“ – die eigene zeichnerische Entwicklung, seit er regelmäßig im „Gulliver“ arbeitet. Mohr möchte auch während und nach der Ausstellung die Zeichentätigkeit vor Ort wenigstens unregelmäßig fortzusetzen: „Ich möchte einfach den Kontakt beibehalten.“

Eröffnung mit Elvira Reith und Karl-Heinz Iffland
Eröffnet wird die Ausstellung im „Gulliver“, Trankgasse (Bahnbogen 1 der Hohenzollernbrücke), am Freitag, 13. Januar 2012, 19 Uhr. Es sprechen der evangelische Pfarrer Karl-Heinz Iffland und die Künstlerin Elvira Reith. Iffland ist Obdachlosenseelsorger in Köln und Region sowie Vorsitzender des KALZ e.V. Reith kuratiert die Präsentationen im „Gulliver“. Zu sehen ist die Schau bis zum 11. April: montags bis freitags von 6 bis 13 und 15 bis 22 Uhr, samstags, sonntags und feiertags von 10 bis 18 Uhr.

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich