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„Liturgie von links. Dorothee Sölle und das Politische Nachtgebet in der Antoniterkirche“

Theologisches Nachdenken ohne politische Konsequenzen komme einer Heuchelei gleich. Jeder theologische Satz müsse zugleich auch ein politischer sein, formulierte 1968 Dorothee Sölle (1929-2003). Die in Köln geborene Theologin und Friedenskämpferin, damals Studienrätin für Deutsch und Religion und beschäftigt am Germanistischen Institut der Uni Köln, „darf als die maßgebliche Kraft des Politischen Nachtgebetes bezeichnet werden“, stellt Dr. Anselm Weyer heute fest. Ort des Politischen Nachtgebetes war von 1968 bis 1972 die Antoniterkirche in der Kölner Schildergasse.

Ebendort wurde nun die Publikation „Liturgie von links. Dorothee Sölle und das Politische Nachtgebet in der Antoniterkirche“ vorgestellt. Neben Autor Weyer informierten darüber Pfarrer Markus Herzberg und Annette Scholl (Leiterin der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit) als Herausgebende für die Evangelische Gemeinde Köln sowie Dr. Damian van Melis, Leiter des Greven-Verlags.

In einer Sprache, die jeder lesen kann
Zu den wichtigen Ereignissen und Personen im Zusammenhang mit der geschichtsträchtigen Antoniterkirche gehörten unbedingt das Politische Nachtgebet und Dorothee Sölle, so Mitherausgeber Herzberg. „Weyers Text wirft einen klaren Blick auf das, was wichtig war. Und das in einer Sprache, die jeder lesen kann.“ Damals ungewohnt, sei es heute selbstverständlich, „dass Pfarrerinnen und Pfarrer politische Statements in ihrer Predigt unterbringen“, betonte der Pfarrer an der AntoniterCityKirche.

Mit feinem Gespür
Der promovierte Literaturwissenschaftler Weyer, Jahrgang 1976, schreibt mit feinem Gespür für die gesellschaftliche, politische und kirchliche Situation im damaligen Köln und darüber hinaus. Er schildert die Vorgeschichte, Entstehung und machtvolle Wirkung des Experiments, das vielfältige Diskussionen, Kritik und Aktionen hervorrief. „Nicht selten wird eine direkte Linie vom Politischen Nachtgebet zu den Friedensgebeten der DDR gezogen“, stellt Weyer fest. Zum Zeitpunkt von Sölles Tod seien die im Nachtgebet in die Tat umgesetzten zentralen Anliegen längst keine Außenseiterpositionen mehr gewesen. Heute sei das Nachtgebet eine akzeptierte Möglichkeit des Gottesdienstes geworden.

Theologie und Politik verbinden
Ziel des „Zusammenschlusses einiger evangelischer und katholischer Christen“ 1968 war es, Theologie mit Politik zu verbinden. „Für Aufruhr sorgte letztlich vor allem die Verbindung von ökumenischem Christentum und Sozialismus. Politische Diskussionen in kirchlichen Räumlichkeiten außerhalb der Gottesdienste sind heute normal. Damals nicht“, schreibt Weyer. „Wir waren eine bunt zusammengewürfelte Gemeinschaft von Menschen (…) Wir machten in Köln die Erfahrung, dass die Schwachen in der Gruppe stark wurden, sofern sie sich auf den Prozess des Gestaltens einließen“, greift der Autor auch auf publizierte Erinnerungen Sölles zurück. Bis zu 30 Personen habe der Arbeitskreis „Politisches Nachtgebet“ umfasst. Neben anderen gehörten ihm Peter Busmann, Klaus Schmidt, Vilma Sturm, Marie Veit und der ehemalige Benediktinerpater Fulbert Steffensky an, den die geschiedene Dorothee Sölle 1969 in der Antoniterkirche heiratete.

„Emanzipation der Frauen“
Zu Verkündigung und zur Sorge der Kirche gehöre „nicht nur ein innerliches, ein jenseitiges, ein späteres Heil, sondern das ganze Wohl des Menschen, sein individuelles und sein gesellschaftliches, sein leibliches und sein geistiges“, betonte Steffensky im ersten Politischen Nachtgebet im Oktober 1968. So griffen die Nachtbeter nicht nur Themen wie den Vietnamkrieg, die „Diktatur des Kapitals“ oder den Massenmord in Indonesien auf. Sie behandelten ebenso die „Emanzipation der Frauen“, die „Fürsorgeerziehung in der BRD“, die Situation von Schülern, Lehrlingen und Obdachlosen.

Politisches Nachtgebet entmythologisieren
Weyer geht es um den Ort des Nachtgebetes, um ein zeitgenössisches Bild, das selbstverständlich auch die Protagonisten, deren Herausforderungen und Diskussionen einschließt. Dabei rückt er vor allem Sölles Beitrag und Biografie in den Mittelpunkt, jedoch ohne sie zu „glorifizieren“. Der Autor versucht erzählerisch und anekdotisch zu erklären, warum das Nachtgebet etwas Außergewöhnliches war. Gleichfalls möchte er das Politische Nachtgebet entmythologisieren. Dieses genieße einen Legendenstatus, der häufig verhindere, „dass man an das Projekt ´rankommt´“, meint Weyer.

Gegenwind von Evangelischen
Ursprünglich sollte die erste Veranstaltung in der katholischen Kirche St. Peter stattfinden. Josef Kardinal Frings' Veto verhinderte das. So war es die Antoniterkirche, die die Gastfreundschaft gewährte. Weyer erklärt, dass das Nachtgebet eine Veranstaltung unabhängiger Christen und nicht der Evangelischen Gemeinde Köln gewesen ist. Gleichwohl sprach bei der Premiere der damalige Pfarrer Jörg Eichert ein Grußwort. „Die Kirche war überfüllt, wie es seit Menschengedenken noch nicht vorgekommen war“, schreibt dieser später. Die Gemeinde, hat Weyers Recherche ergeben, habe das Nachtgebet freundschaftlich begleitet – und nicht, wie häufig kolportiert, angefeindet. Irgendwann sei es dann ausgelaufen. Gegenwind erfuhr das Projekt aber auch von evangelischen Amtsträgern. Unter ihnen sprach sich der rheinische Präses Joachim Beckmann aufgrund der Erfahrung der NS-Zeit dagegen aus, dass Politik in die Kirche komme.

Menschliche Wärme und Gläubigkeit
„Das ist kein Köln besoffenes Buch“, charakterisiert van Melis. Für den Leiter des Greven-Verlags haben die Themen Sölle und Nachtgebete eine erstklassige nationale und selbst internationale Relevanz. Ihm sei Sölle als Thema sogar im Studium in Südamerika „über den Weg gelaufen“. Weyer fange die politische und intellektuelle Präzision Sölles und gleichzeitig ihre menschliche Wärme und Gläubigkeit ein, lobt van Melis. Zudem warte der Autor mit einer thematischen Weite auf. Er verwebe NS-Geschichte, Wirtschaftsgeschichte, Heinrich Böll, Kirchenhierarchie, Stadtumbau, RAF, Geheimdienst und manches andere mehr miteinander.

Erhältlich ist die Publikation über den Buchhandel hinaus im Foyer der Antoniterkirche, Schildergasse
57.

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Anselm Weyer, Liturgie von links. Dorothee Sölle und das Politische Nachtgebet in der Antoniterkirche, herausgegeben für die Evangelische Gemeinde Köln von Markus Herzberg und Annette Scholl, Klappenbroschur, 104 Seiten mit 20 schwarz-weißen Abbildungen, 9.90 Euro, ISBN 978-3-7743-0670-7.

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich