You are currently viewing Kriegskinder brechen das Schweigen. Frauen erinnern sich an ihre Kindheit im Krieg.

Kriegskinder brechen das Schweigen. Frauen erinnern sich an ihre Kindheit im Krieg.

1945 endete der Zweite Weltkrieg. Aus Anlass des 60. Jahrestages kommen in den Medien erneut deutsche Zeitzeugen zu Wort vieles, was sie erzählen, haben die Nachgeborenen so noch  nie gehört. Sie schildern Erinnerungen an die Schrecken der Kämpfe, blicken zurück auf Vertreibung und Flucht, auf den Einmarsch alliierter Truppen, den Tag der Befreiung. Im Vordergrund steht die persönliche Wahrnehmung des historischen Geschehens. Aber selten bis nie kam bisher zur Sprache, welche Auswirkungen der Krieg die Frauen und Männer hatte und noch immer hat, die das alles als Kinder erlebt haben: Der Vater an der Front oder in Gefangenschaft, wo Überleben Glücksache war. Getrennt von Mutter oder Geschwistern. Das „sichere“ Zuhause wie die nächste Umgebung bedroht, bomdadiert und zerstört. Ausharren in Bunkern und Kellern, Verlust der Heimat. Sorgen und Trauer, Hunger und Krankheit sind ständige Begleiter; Not, Gewalterfahrung und Tod „Normalität“.

Das Schicksal der Kriegskinder-Generation war tabu
Das Ende der kriegerischen Handlungen und des alltäglichen Grauens bedeutete für damaligen Kinder keineswegs das Ende der persönlichen Leiden. Die psychischen Folgen der Kriegserlebnisse beeinträchtigen sie bis heute. Doch im öffentlichen Bewusstsein spielten ihre Kriegstraumata jahrzehntelang keine Rolle. Das Schicksal der Kriegskinder-Generation war sozusagen tabu.  Weil nun die Betroffenen ihr Schweigen zu brechen beginnen, wird das Ausmaß ihrer seelischen Kriegs-Verletzungen deutlich. Mit dazu beigetragen hat Sabine Bode. Die Kölner Journalistin hat mit Menschen der „vergessenen Generation“ gesprochen und deren Geschichten in einem Buch veröffentlicht.

Auch und gerade in Kirche muss dieses Thema Raum bekommen
Auf Einladung von Daniela Hammelsbeck, Pastorin für Frauenberatung und Mädchenarbeit im Kirchenkreis Köln-Mitte, und Gabriele Spieker, Pfarrerin in der Hospizarbeit, las die Autorin im Gemeindehaus der Evangelischen Kirchengemeinde Köln-Nippes aus ihrem 2004 erschienenen Buch „Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen“. „Uns ist wichtig, diesem Thema auch und gerade in der Kirche Raum zu geben“, so Hammelsbeck. Dabei gehe es überhaupt nicht darum, in irgendeiner Weise die nationalsozialistischen Verbrechen zu relativieren oder gar Opfer und Leid gegeneinander aufzurechnen. Es gehe um eine Beschäftigung mit dem Schicksal schuldloser Kinder, die oft ihr Leben lang unter den Kriegseinwirkungen litten.

„Sie wollen mir wohl ein Trauma anhängen!“
„Kriegskinder brechen das Schweigen. Frauen erinnern sich an ihre Kindheit im Krieg“ – so der Veranstaltungstitel – bot den 45 Gästen bei der Lesung auch Beobachtungen, Erklärungen und Einschätzungen. Bode malt ein aussagekräftiges Bild von dem schwierigen Thema. Darauf gestoßen war die 1947 geborene Journalistin angesichts des Leidens und der Traumatisierung der jungen Menschen im Krieg in Ex-Jugoslawien. Sie fragte sich, welche Auswirkungen der Zweite Weltkrieg auf die deutschen Kinder gehabt habe. Bald fiel ihr auf, dass sie in Gesprächen mit den heute 60- bis 75-Jährigen immer wieder versuchte, das Thema auf diese Frage zu lenken. Die Antworten fielen zunächst immer gleich zurückhaltend aus: „Andere haben es noch schlimmer gehabt.“ Oder: „Das war für uns normal.“ Manchmal war die Reaktion ein bisschen schärfer: „Sie wollen mir wohl ein Trauma anhängen!“
Verlage und Redaktionen reagierten zurückhaltend auf Bodes Idee, darüber zu arbeiten: „Das hat mich gewundert, habe ich das Thema zunächst doch als ein journalistisches gesehen. Ich dachte nicht, dass es noch immer ein Tabu darstellt“. Ein Tabu übrigens, das die „Kriegskinder“ selbst als solches sahen. Ihnen war eingetrichtert worden: „Sei froh, dass du überlebst hast.“

Innerhalb kurzer Zeit hat sich sehr viel getan
Ende der 90er Jahre und 2002 konnte Bode „Kriegskinder-Beiträge“ im Rundfunk unterbringen: „Ich habe einfach weiter gefragt, in der Hoffnung, dass sich ´was lockert.“ Die Radiosendungen stießen auf Resonanz, zahlreiche Betroffene aus den Jahrgängen 1930 bis 1945 schrieben Briefe und teilten ihre Erfahrungen mit. „Das war mein eigentlicher Einstieg“, sagte Bode. Zuvor noch hatte sie mit einem Kollegen eine Tagung zum Thema organisiert. Aber der war kein großer Erfolg beschieden, bedauert die Journalistin. „Dreißig Leute waren da, davon zehn Referenten.“ Fallen lassen wollte sie das Thema jedoch nicht.
Sie setzte auf Zeit. Denn, so die Idee, wenn die Menschen aus dem Berufsleben ausscheiden und mehr zur Ruhe kommen,  dann beschäftigen sie sich auch mehr mit ihrem Leben, ihrer Jugend. Bode sollte Recht behalten. „Innerhalb kurzer Zeit hat sich sehr viel getan“, bekräftigt sie. Beispielsweise mit dem „Internationalen Kriegskinder-Kongress“, der unter großer Beteiligung von Wissenschaftlern und Zeitzeugen in Frankfurt (Main) stattfand. Als Mit-Auslöser für die neue Offenheit stuft Bode die Bücher „Im Krebsgang“ von Günter Grass und „Der Brand“ des Historikers Jörg Friedrich ein. Diese hätten quasi die „Erlaubnis“ für die Beschäftigung mit dem eigenen, dem deutschen Kriegsschicksal erteilt, ohne einer rechtsgerichteten Ideologie verdächtig zu sein.

Dreh dich weg und mach die Augen zu
Ausführlich geht Bode beispielsweise auf das Schicksal von Gudrun Baumann ein. 1937 geboren, war sie bis zu ihrem Ruhestand Ballettlehrerin. In den Gesprächen mit der Journalistin gestand Baumann, dass sie sich in den vergangenen Jahren, seitdem sie verstärkt in ihrer Kindheit recherchiere, innerlich verändert habe. Bis dahin hatte sie gerade die Kriegserlebnisse weitgehend vergessen. Weshalb, wusste sie nicht. Nein, mit dem Alter hänge das nicht zusammen, versicherte sie. Vielleicht aber, so Bode, rühre es von ihrer Mutter her. Die habe ihr Kind aufgefordert, die Dinge zu vergessen, die zu grauenhaft waren: „Dreh dich weg und mach die Augen zu“, habe die Mutter das aufgewühlte vierjährige Kind bei einem Bombenangriff zu besänftigen versucht, „Du hast nichts gesehen.“

Eine Art Behinderung – auch und gerade für das spätere Leben
Konkretes blieb bei diesen Kindern lange verschüttet, Gefühle jedoch seien hängen geblieben, so Bode. Gefühle, die an die zahllosen Bunkeraufenthalte erinnern, an Luftangriffe und die Angst, den  Schutzraum nicht rechtzeitig zu erreichen, draußen bleiben zu müssen, wenn links und rechts die Bomben einschlagen. Auch das hat die junge Gudrun erlebt. „Erzählt hat sie davon keinem“, sagt Bode. Sehr spät wurde Baumann klar, dass sie mit einer Art Behinderung lebt.  Wie kann es anders sein, formuliert die Journalistin, wenn das prägende Lernprogramm ihrer Kindheit Überleben hieß, und nicht Leben.
An das Kriegsende erinnert sich Gudrun genau. Aber wer gelernt hatte, mit dem Krieg umzugehen, stand nun vor einer neuen Herausforderung: „Jetzt lief ich in ein Nichts, das machte mir Angst“, wird Baumann zitiert. Die Achtjährige überfiel eine Lebensangst. Später war sie häufig in Unfälle verwickelt. Aber trotz oder gerade aufgrund ihrer Verletzungen fühlte sie sich voller Energie und gesundete viel schneller als andere Patienten mit gleichen Blessuren. Ein Arzt konfrontierte Baumann dann mit der Feststellung: „Sie sind auf Katastrophen geprägt, sie brauchen regelmäßig Katastrophen, um Ihr Potential abzurufen.“
Eigentlich, betont Bode, sollte man die Kriegskinder nicht als eine einheitliche Generation betrachten. „Vielmehr sind es mehrere Generationen.“ Es mache einen großen Unterschied, ob man Baby oder Kleinkind war, ältere oder jüngere Geschwister hatte. „Die von 1930 bis 1933 Geborenen können die Kriegsbelastungen ziemlich gut einschätzen. Bei den Jüngeren war das ganz anders.“

Posttraumatische Symptome
Bode weist darauf hin, dass die Menschen der Kriegsgeneration, mit denen sie gesprochen hat, ihre oft unerklärlichen Beschwerden, ihre versteckten oder auffälligen Besonderheiten selten oder gar nicht mit den Kriegserlebnissen in Verbindung brachten. „Das wurde von den Betroffenen immer abgewehrt.“ Zu Unrecht, wie Studien zeigen, nach denen Beschwerden dieser Art als typische posttraumatische Symptome anzusehen sind. „Sie hatten eine Erinnerung, aber kaum die Möglichkeit des Austauschs, weder in der Familie, noch mit den Kollegen im Büro“, stellt Bode fest. 
Sie thematisiert außerdem den „problematischen Umgang“ von weiblichen Kriegskindern mit Männern. Viele von ihnen lebten allein, ohne eine länger anhaltende Partnerschaft. „Sie haben ihre Pubertät übersprungen“, zitierte Bode eine Erklärung der Therapeutin Helga Spranger, selbst Kriegskind. „Das ist so, als ob ein Vogel nie gelernt hätte zu fliegen.“ Trotz ermutigender Sätze, wie „es ist nie zu spät“, gelte auch hier, dass versäumte Lebensphasen niemals nachgeholt werden können.

Noch eine Spätfolge: Der Rückzug der Töchter und Söhne
Schließlich spricht Bode auch das oft schwierige Verhältnis zwischen der Kriegsgeneration und ihren direkten Nachkommen an. Danach leben die Kriegskinder und deren Kinder nicht selten „wie Menschen auf unterschiedlichen Planeten“. Bode: „Was ich nicht erwartet hatte, war der Rückzug der Töchter und Söhne.“ Die Eltern sprechen nicht über das Erlebte, die Kinder finden sich damit ab. Die Diskrepanz zwischen den Eltern und ihren Kindern, die ein großes Desinteresse seitens Vater und Mutter verspürten, sei ein typisches Familienmuster: „Es sind überwiegend die 1960er Jahrgänge, die in die Therapie kommen, bei denen der Kontakt zu den Eltern relativ dünn ist. Die darüber klagen, nicht an sie heranzukommen.“ Dabei sei es wichtig für die Kinder zu erfahren, dass sie keine Schuld haben an der vermeintlichen Gefühllosigkeit ihrer Eltern.

Diskussion
Bei der folgenden Diskussion zeigten sich zahlreiche der Teilnehmenden, darunter Angehörige der Kriegsgeneration, sehr berührt von dem Gehörten. Es löse viel an eigenen Erinnerungen aus, so der Tenor. Auch bei der jüngeren Generation. Deren Vertreterinnen äußerten, sie könnten nun das Verhalten ihrer Eltern besser verstehen. Sie hätten durch die Lesung den Anstoß erhalten, das Thema mit Mutter und Vater (noch einmal) anzusprechen.
Abschließend wurde deutlich, dass die Veranstalterinnen mit ihrer Ausgangsidee nicht alleine stehen. Es sei Aufgabe auch der Kirche, dem Schicksal der Kriegskinder Raum zu geben, lautete die einhellige Meinung. Auf Zustimmung stieß der Vorschlag von Pastorin Hammelsbeck, etwa auch Trauer- und Klage-Gottesdienste zu diesem Thema anzubieten.

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich