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Karfreitagspredigt des Stadtsuperintendenten Rolf Domning

Karfreitagspredigt des Stadtsuperintendenten Rolf Domning 2012 über Hebräer 9,15.26b-28

Die Predigt nimmt Bezug auf die Evangeliumslesung, die der liturgische Kalender der Evangelischen Kirche im Rheinland für diesen Sonntag vorsieht: Johannes 19,16-30. Als Lied nach der Predigt wird – passend zur Auslegung – vorgeschlagen „O Traurigkeit, o Herzeleid“ aus dem Evangelischen Gesangbuch, Lied Nr. 80

Liebe Gemeinde,

die Evangelien, so hat es der Theologe Martin Kähler einmal formuliert, seien eigentlich „Passionsgeschichten mit ausführlicher Einleitung“ . Die Geburt Jesu, seine Kindheit, die Gleichnisse, Heilungen und Wundertaten – das alles sei von Bedeutung, und darum hätten es uns die Evangelisten, mit jeweils unterschiedlichem Schwerpunkt, eben auch überliefert. Das Eigentliche aber, das, worauf es ankomme, sei das Leiden und Sterben Jesu.

Diese Einschätzung mag zunächst verwundern; schließlich macht die Passionsüberlieferung nur einen Bruchteil der Evangelien aus. Und doch hat Martin Kähler Recht mit seiner Bemerkung Recht. Denn zielt nicht von Beginn an alles auf die Erlösung des Menschen durch den Leidensweg Jesu, seine Kreuzigung und Auferstehung?

Kaum ist Jesus geboren, trachtet ihm Herodes schon nach dem Leben (Matthäus 2,16). Bei seinem ersten öffentlichen Auftritt in der Synagoge seiner Heimatstadt erregt der junge Jesus so heftig Anstoß, dass man ihn erneut beinahe getötet hätte (Lk 4,16ff). Später, während seiner Wanderjahre mit den Jüngern, spricht er dann häufig von seinem bevorstehenden Leiden und Sterben, auch wenn seine Anhänger das nicht hören wollen (Mk 8,31f). Im Grunde sind alle Evangelien von Anfang an durchzogen von Hinweisen auf die unausweichliche Passion Jesu.

Was dann am Karfreitag passiert, das haben wir gerade wieder in der Lesung aus dem Johannes-Evangelium gehört. Doch hätte es der Worte kaum bedurft, um uns die so vertrauten Schauplätze und Personen noch einmal ins Gedächtnis zu rufen: Der Römer Pilatus, der Jesus am Ende verurteilt und ihn mit einem Spott-Schild verhöhnen lässt. Die Soldaten, die das Los werfen um Jesu Gewand. Die Frauen und die Jünger unter dem Kreuz. Und schließlich Jesus selbst, dem sie Essigwasser zu trinken geben und der mit den Worten „es ist vollbracht“! stirbt.

All das haben wir plastisch vor Augen, wenn wir am Karfreitag zusammen kommen. Das Leiden und Sterben Jesu – es ist so oft beschrieben, gemalt, verfilmt, vertont worden, dass es tief in unserem kollektiven Gedächtnis verankert ist.

Ganz anders der heutige Predigttext aus dem Hebräerbrief. Er hat nichts von der detailreichen Schilderung der Evangelien. Kein Pilatus, keine Soldaten, keine Menschen unter dem Kreuz. Alles Vertraute ist weggelassen. Unser Predigttext, er beschreibt nicht, was geschehen ist, er will dem Geheimnis dieser Geschehnisse auf den Grund gehen. Wir wissen: Jesus ist am Kreuz gestorben – doch was bedeutet das? Warum liegt ausgerechnet in diesem Tod ein Heilsgeschehen für uns Menschen beschlossen?

Ich lese aus dem Hebräerbrief, Kapitel 9, die Verse 15 und 26b-28:
Und darum ist er auch der Mittler des neuen Bundes, damit durch seinen Tod, der geschehen ist zur Erlösung von den Übertretungen unter dem ersten Bund, die Berufenen das verheißene ewige Erbe empfangen.

Nun aber, am Ende der Welt, ist er ein für alle Mal erschienen, durch sein eigenes Opfer die Sünde aufzuheben. Und wie den Menschen bestimmt ist, „einmal“ zu sterben, danach aber das Gericht: So ist auch Christus „einmal“ geopfert worden, die Sünden vieler wegzunehmen; zum zweiten Mal wird er nicht der Sünde wegen erscheinen, sondern denen, die auf ihn warten, zum Heil.

Liebe Gemeinde,

nur drei Sätze umfasst der Predigttext. Drei Sätze sind ziemlich verschachtelt und nicht besonders eingängig. Zugleich lohnt es sich, diese drei Sätze genauer zu betrachten, denn sie enthalten auf engstem Raum zentrale Gedanken des christlichen Glaubens.

Christus ist der Mittler des neuen Bundes, heißt es zu Anfang, damit durch seinen Tod, der geschehen ist zur Erlösung von den Übertretungen unter dem ersten Bund, die Berufenen das verheißene ewige Erbe empfangen.

Wir erfahren hier etwas, das sich vom Alten bis ins Neue Testament durch die ganze Bibel zieht: Gott ist ein Gott des Bundes. Von Anbeginn an sucht er die Nähe des Menschen, die Nähe zu seiner Kreatur, die er geschaffen hat nach seinem Bilde. Das beginnt schon in der mythischen Erzählung vom Paradies. Da geht Gott abends, als es kühl geworden ist, durch den Garten Eden spazieren und ruft nach Adam. Doch der hat sich mit Eva versteckt, aus Furcht und Scham. Denn die beiden haben zuvor das einzige Gebot übertreten, das Gott ihnen gegeben hat: Sie haben Früchte vom Baum der Erkenntnis gegessen. Damit fand das paradiesische Leben ein abruptes Ende. Es wird nicht die Unzufriedenheit mit jenem „paradiesischen“ Leben gewesen sein, welches in ihnen die Begierde weckte. Da war Verführung im Spiel, welche die Gier weckte nach mehr – den unbezwingbaren Drang, über alles menschliche Maß hinaus zu streben und Gott selbst zu versuchen.

Die Konsequenzen dieser „Ursünde“ des Menschen sind bekannt. Es war – und ist – die Unersättlichkeit, welche den Menschen aus der Harmonie der Schöpfung reißt und in die Gottesferne bringt. Der paradiesische Zustand hat ein Ende, Adam und Eva werden aus dem Garten Eden vertrieben. Fortan bestimmen Anstrengung und Schmerz ihr Leben, und vor allem: Dieses Leben ist nun endlich. Zu Erde sollen die Menschen wieder werden, wenn ihre Zeit um ist – zu jener Erde, aus der sie gemacht sind.

Doch Gott ist, wenn man so will, nicht nachtragend. Zwar ist der Mensch böse von Jugend an (1. Mo 8,21), das erkennt Gott wohl. Aber er schließt nach der Sintflut mit den Geretteten einen neuen Bund und verspricht ihnen, nicht mehr zu schlagen alles, was da lebt. Solange die Erde steht, sollen nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht (1. Mo 8,28).

Als das Volk Israel aus der Sklaverei Ägyptens flieht, gibt Gott ihm steinerne Tafeln zum Zeichen seines Bundes (2. Mo 24ff). Darauf steht, gewissermaßen schwarz auf weiß, was er den Menschen sein will: Ich bin der Herr, dein Gott! Ich will mit dir sein, bei dir sein, vertrau mir. – Wie wir wissen, nutzt aber auch das nichts. Die Menschen murren über die lange Wüstenwanderung, sie sehnen sich zurück nach Ägypten, zurück an die Fleischtöpfe, die sie in Erinnerung haben. Nun beten sie Götzen an, die ihnen gefälliger zu sein scheinen, veranstalten einen Tanz ums goldene Kalb. Ständig unzufrieden zu sein, mit dem Dasein zu hadern, sich selbst Gott zu entfremden und falschen Götzen zu huldigen, das scheint zum Wesen des Menschen zu gehören. Dabei will Gott doch nur eines: Einen ewigen Bund mit den Menschen schließen und ihnen diesen Bund am liebsten direkt ins Herz schreiben, damit sie ihn nicht vergessen, wie es der Prophet Jeremia formuliert (Jer 32,40).

Gott sucht den Bund mit den Menschen, er will sich mit ihnen verbinden, in immer neuen Anläufen versucht er es. Auch das gehört zur langen Vorgeschichte des Karfreitags. Denn irgendwann greift Gott zum äußersten Mittel. Er wirft alles in eine Waagschale: In der Gestalt des Jesus von Nazareth wird Gott selbst Mensch. Dieser Jesus, der am Kreuz stirbt, und damit zum Christus wird – er soll der Mittler des Neuen Bundes sein. Auf dass die Menschen endlich begreifen. Werden sie es begreifen? Haben wir es begriffen?

Für uns als Christen offenbart sich mit dem Passionsgeschehen die Tiefendimension des Handelns Gottes zu unserem Heil. Das, was in den großen Erzählungen des Alten Testamentes deutlich geworden ist, soll der Mensch überwinden und zu Gott finden und damit zu sich selbst.

Waren die Lebensbedingungen für Adam und Eva im Paradies noch ganz und gar vollkommen, war trotzdem alles, was Gott ihnen gegeben hatte, nicht genug. In ihnen erwachte – geweckt von der Schlange, Symbol des Zweifels, Wortwurzel des Teufels: Diabolos – das Begehren nach mehr. Diese Gier nach mehr, wir erkennen sie in unserer Zeit auch wieder als den ökonomischen Zwang zu immer mehr Wachstum – und jene Entfesselung von unbeherrschbaren Kräften und Mächten, wie sie uns von Johann Wolfgang von Goethe im Zauberlehrling poetisch vor Augen geführt werden, und wie sie uns in den Tragödien von Tschernobyl und aktuell von Fukushima real und furchtbar vor Augen stehen.

Diese alten Zusammenhänge hat unlängst auf sehr beeindruckende Weise der tschechische Wirtschaftswissenschaftler Tomas Sedlacek in seinem Buch „Die Ökonomie von Gut und Böse“ neu herausgearbeitet – die Gier als der Anfang von allem – die Ursünde, durch das unersättliche Begehren des Menschen in die Welt gebracht.

Der alte Bund, den Gott mit Noah geschlossen hatte, vermochte das Übel nicht aus der Welt schaffen.
Unser Predigttext spricht im Kontext davon, dass wir von den „toten Werken“ gereinigt werden müssen, um dem lebendigen Gott dienen zu können. (Hebr. 9,14).

In der Sprache des Propheten Jeremia, ist es genau das, was heute in die Herzen der Menschen geschrieben werden müsste.

Hören wir noch einmal den Predigttext:

Nun aber, am Ende der Welt, ist er ein für alle Mal erschienen, durch sein eigenes Opfer die Sünde aufzuheben. Und wie den Menschen bestimmt ist, „einmal“ zu sterben, danach aber das Gericht: So ist auch Christus „einmal“ geopfert worden, die Sünden vieler wegzunehmen; zum zweiten Mal wird er nicht der Sünde wegen erscheinen, sondern denen, die auf ihn warten, zum Heil.

Der Tod Jesu am Kreuz, er ist einzigartig, unwiederholbar. Doch nicht wegen der Todesart – gekreuzigt wurde zur Zeit des Neuen Testaments massenhaft; es war die bevorzugte Hinrichtungsart der Römer für alle möglichen Gauner, für entlaufene Sklaven, für Feinde des Reiches. Das Johannesevangelium berichtet uns von zwei Verbrechern, die zusammen mit Jesus ans Kreuz geschlagen werden (Joh 19,31).

Auch, dass Jesus unter jener besonders grausamen Methode der Hinrichtung gelitten hat, macht seinen Tod nicht einzigartig. Die Menschheit war schon immer sehr erfindungsreich, wenn es darum ging, anderen Schmerzen zuzufügen.

Bis heute wird in vielen Ländern der Erde systematisch gefoltert. Oft sterben die Gepeinigten anonym, ohne dass je jemand von ihrer Qual erfährt. Und was ist mit jenen, die an einer unheilbaren Krankheit sterben? Oder durch einen Unfall? Auch sie leiden, und wer wollte beurteilen, welches Sterben nun schlimmer ist? Man kann Leid nicht gegeneinander aufwiegen.

Nun war es ja so, dass der römische Statthalter Pilatus eher unwillig das Todesurteil gegen Jesus aussprach. Ich finde keine Schuld an ihm, bekennt Pilatus im Passionsbericht des Johannesevangeliums (Joh 19,6). Ist Jesu Tod also deshalb einzigartig, weil er – im Sinne der Anklage – als Unschuldiger starb? Wohl kaum. Justizirrtümer und Fehlurteile sind ein trauriger Begleiter des Gerichtswesens. Immer wieder liest man von Hinrichtungen, die sich im Nachhinein als falsch herausstellen, bei denen ein Unschuldiger getötet wurde.

Überhaupt: Trifft der Tod nicht stets einen Unschuldigen? Wer hätte den Tod verdient? Unter welchen Umständen, in welchem Alter ist es legitim, zu sterben? Sicher, der Tod ist eine biologische Notwendigkeit. Wir wissen um unsere Endlichkeit. Doch eigentlich halten wir den Tod – egal, wann er eintritt – für eine grobe Ungerechtigkeit, einen Skandal…

Und das Leben? Im Hier und Jetzt?

Ich kehre noch einmal zum Anfang meiner Predigt zurück. Es ist richtig, dass die Evangelien „Passionsgeschichten mit ausführlicher Einleitung“ sind. Diese „Einleitungen“ geben allerdings sehr gute Einblicke in das Leben Jesu und die Gründe, die zu seiner Passion geführt haben, sein Eintreten für die Armen und Rechtlosen, seine Botschaft vom Reich Gottes. Sie machen deutlich, dass auch der „neue Bund“, der mit Jesus begründet wird, nicht drohende Entfremdung des Menschen von Gott, seinen Mitmenschen und von sich selbst ausklammert.

So greift Thomas Sedlacek diesen Gedanken auf: „Es ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich, das Böse auszumerzen. Selbst im vollkommenen Zustand des Garten Eden musste das Böse – in Form des Baums der Erkenntnis von Gut und Böse – latent möglich sein. Das Böse muss möglich sein. Dessen ist das Christentum sich völlig bewusst; wir können das Böse nicht durch menschliche Anstrengungen auslöschen. Sobald es existiert, wächst es wie wucherndes Unkraut in das Gute hinein. Deshalb braucht die Welt das Stellvertreteropfer Christi;“ (Tomas Sedlacek, Seite 187.)

Damit ist der Tod wie auch das Leiden und die Ungerechtigkeit nicht aus der Welt, das Unkraut wuchert weiter unter dem Weizen. Durch das Stellvertreteropfer Christi ist die Sünde jedoch neutralisiert, sozusagen. Sie steht nicht mehr zwischen Mensch und Gott. Der Weg ist frei für eine neue Beziehung, einen Neuen Bund.
Das ist die ermutigende Botschaft an Karfreitag und die Dimension des Heilsgeschehens Christi in seiner unbegreiflichen Tiefe.

Amen.

Text: Rolf Domning
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