You are currently viewing Karfreitagspredigt 2015 des Stadtsuperintendenten

Karfreitagspredigt 2015 des Stadtsuperintendenten

Predigt an Karfreitag, 3. April 2015, 9.45 Uhr, in der Kölner Kartäuserkirche, Kartäusergasse 7, zu Johannes 19,16-30:

Liebe Gemeinde!

„Da ist noch Luft nach oben!“. Diesen Satz kennen Sie sicher; ich würde sogar behaupten, es ist einer der Lieblingssätze unserer Kommentatoren. Die deutsche Nationalmannschaft, die FDP, die neue Show von Carolin Kebekus oder auch die Adidas-Aktie, sie alle haben aus Sicht der beruflichen oder privaten Meinungsmacher unserer Gesellschaft noch „Luft nach oben“. Wer irgendwo noch „Luft nach oben“ sieht, gibt sich als entspannter Kritiker – kein bornierter Nörgler, kein Gutmensch, sondern das ist jemand, der meint: „Da ist noch was drin, da kann man noch was rausholen!“ Wichtig zu wissen für die, die am „Ende des Tages“, am Ende des Lebens etwas erreicht haben wollen, oder? „Luft nach oben“, in Kombination mit „da geht noch was“, ich glaube, das sind zwei Sätze, die unsere Gesellschaft sehr gut charakterisieren.

Wir leben in einer Zeit, in der sich die Grenzen des Machbaren von Tag zu Tag verschieben. Optimierungsbedarf gibt es immer und ausgereizt ist noch lange nichts! Wir haben uns daran gewöhnt, dass Autos von Generation zu Generation schneller, größer und zugleich sparsamer, dass Computer dünner und leistungsfähiger werden – denken Sie nur, ein durchschnittliches Smart-Phone ist heute so leistungsfähig wie noch vor 20 Jahren ein ganzes Rechenzentrum! Die Anlagestrategen gehen davon aus, dass die Wirtschaft immer noch weiterwächst, die Technikfreaks und Zukunftsforscher, dass das Weltwissen unablässig zunimmt. Für die Probleme, die wir selber schaffen, schaffen wir auch die Lösung. Ja, da ist immer noch Luft nach oben. Die Optimisten, sie wissen, da geht immer noch was! Und dabei werden wir immer älter und leben selbstbestimmter als die Generationen vor uns. Die Soziologie und die Psychologie fassen diese besondere Entwicklung unter Begriffen wie Beschleunigung oder Entgrenzung. Und wenn man genauer hinschaut, dann wird man feststellen, dass – zumindest für die westlichen Gesellschaften – das letzte halbe Jahrhundert unter dem Zeichen dieser Entwicklung stand: Die Erstbesteigung des Mount Everest, der Sputnik-Schock, den die Russen bei den Amerikanern auslösten, die Mondlandung, die Erfindung des Internet, digitale Computerwelt, die Entschlüsselung der menschlichen DNA, Weltwirtschaft und Globalisierung – keine Grenze im Inneren oder Äußeren, die wir nicht verschoben hätten. Was wir auch unternehmen … gefühlt ist da immer noch „Luft nach oben“. Das Menschenbild der Gegenwart, so hat es der Psychologe Rainer Funk vor einiger Zeit formuliert, ist das des entgrenzten Menschen, der dann auch in der Arbeitswelt, in seinem Kommunikationsverhalten, in den persönlichen Beziehungen und in der Partnerschaft, aber auch in seinem Mobilitäts- und Konsumverhalten davon ausgehen darf, dass prinzipiell jederzeit alles geht. Der entgrenze Mensch folgt dem Ideal eines maximal selbstbestimmten Lebens, das frei von allen Vorgaben, Maßgaben und Verbindlichkeiten ist. Er liebt es, sich neu zu erfinden und alles hinter sich zu lassen. Weil eben immer noch etwas geht. Und gleichzeitig lebt er in der paradoxen Suche nach einer Verbundenheit zu anderen, die ihn selbst nicht bindet.

Es ist also nicht besonders zeitgemäß, von Grenzen zu sprechen.

Und doch stoßen wir heute an Karfreitag an eine Grenze, die endgültig ist und der sich niemand entziehen kann. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich empfinde den gekreuzigten Jesus, die Geschichte seines Leides und seiner Erniedrigung, die Desillusionierung der Jünger – ich empfinde das immer wieder als eine großes Herausforderung für unseren Glauben, als einen Stoß, der die tiefsten Fundamente meiner/unserer Überzeugungen erschüttert, so dass es fast nicht auszuhalten ist. Karfreitag ist eine Zumutung auch für unsere gesellschaftlichen Werte, Karfreitag ist eine Zumutung für meinen Glauben. Was am Kreuz passiert, überschreitet beides: die Grenzen des guten Geschmacks und die Grenzen unserer Vorstellungskraft. Und doch ist Karfreitag ein Teil meiner/unserer Alltagswirklichkeit: Warum stürmen zwei junge Männer das Redaktionsbüro einer Zeitschrift und exekutieren elf Menschen? Warum steuert ein junger Mann einen vollbesetzten Airbus absichtlich gegen eine Bergwand und bringt dabei 150 Menschen um, darunter viele Kinder? Erweiterter Suizid, so heißt es fachspezifisch und emotional beschränkt. Die Fakten, die nach und nach über die Medien ans Licht dringen, die psychologischen Erklärungen, der journalistische Blick in die Biografien und das persönliche Umfeld der Täter – das alles mag uns Brücken des Verstehens liefern, aber diese Brücken sind schmal und wacklig, sie nehmen uns nicht die Angst vor dem Abgrund der darunter klafft. Die Ereignisse in Paris und Seyne-les-Alpes sind ein Schock für uns, weil sie Angriffe auf unser Wertegerüst und das Selbstbild unserer Gesellschaft darstellen: Die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung, die Möglichkeit, sich frei zu bewegen. Das Vertrauen schwindet in die Zuverlässigkeit und Tragfähigkeit all dessen, was unser Leben sicher und auch angenehm macht. Wir können das alles nicht relativieren, ohne uns selbst in Frage zu stellen.

Alles, woran wir glauben, steht plötzlich in Frage – das ist für mich das Trauma von Karfreitag, heute.

Der Theologe Klaus Berger hat kürzlich dem politischen Magazin Cicero ein bemerkenswertes Interview gegeben, in dem es um Jesus ging. Jesus ist für Berger keine versöhnliche Person, sondern jemand, der seine Mitmenschen überrascht, herausgefordert und ihnen nicht selten zu viel zugemutet hat. Nun kommt das Leben dieses Menschen zu seinem Ende – und auch das ist eine Zumutung. Auf Golgatha steht die Weltgeschichte für einen Augenblick still, da gibt es kein Weiterdenken, kein Erklären und auch keine Theologie – nur die Präsenz eines Sterbenden, der Abschied nimmt von seinen Lieben. Es sind nur noch seine engsten Begleiter oder sagen wir besser „Begleiterinnen“ gegenwärtig – der Evangelist Johannes berichtet erstaunlicherweise von den Frauen der Jesus-Bewegung, die vor allem geblieben sind, als es nichts mehr zu hoffen gibt. Die anderen, das können wir zumindest vermuten, haben sich versteckt, weil sie Angst haben, als Nächste verurteilt zu werden. Oder weil die letzten Jahre ihres Lebens gerade wie ein Kartenhaus in sich zusammen gefallen sind: Alles, was sie geglaubt haben, alles, wofür sie gelebt haben, ist dahin. An Karfreitag gibt es für sie noch keine Perspektive von Auferstehung und Himmelfahrt. Ganz im Gegenteil: Alle Hoffnungen verlieren an diesem Tag ihre Berechtigung, das Ziel, nach dem die Jüngerinnen und Jünger ihr Leben ausgerichtet hatten, fällt in sich zusammen: Keine Selbstverwirklichung, keine Revolution, kein Wunder – das ist die bittere Bilanz von Karfreitag. Da ist weder „Luft nach oben“ noch ein Gefühl von: „Da geht noch was!“ Nein, da geht nichts mehr, aus, vorbei, der Schock der Jünger und Jüngerinnen, die innere Erstarrung, das Gefühl einer inneren Entfremdung – diese Erfahrungen machen wohl alle Trauernden.

Die Jüngerinnen und Jünger Jesu rücken hier ganz nah an uns Menschen des 21. Jahrhunderts.

Das Christentum, so formuliert es Berger, diene nicht der Bedürfnisbefriedigung sondern sei eine Begegnung mit Gott, die den Menschen eigentlich überfordere. Das ist ein harter Satz und wann ist dieser Satz wahrer, als an Karfreitag? Überforderung und Begegnung mit Gott, wir müssen an Karfreitag beides zusammendenken. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Menschen die am Fuße des Kreuzes auf die Ankunft des Todes warten, ja, dass auch Jesus selbst in diesen Stunden die intensive Nähe Gottes gespürt hat. In dem Moment, wo keine Lebenskonstruktion mehr trägt, wo auch der kleinste Traum ausgeträumt ist, in dem Moment, wo wir restlos überfordert vom Leben dem Tod ins Auge blicken, da sehen wir Gott ganz unverstellt. Johannes erweist sich hier als ein großer Erzähler: Erst richtet er den Blick auf die Soldaten und spannt damit einen großen zeitlichen Bogen bis zur Zeit Davids auf, dann geht er plötzlich in die Nahaufnahme. Aus der Erzählung lösen sich vier Personen heraus, enge Verwandte Jesu sowie ein ihm besonders vertrauter Jünger. In seinem letzten klaren Moment wendet sich Jesus diesen Menschen individuell zu, wie ein Sterbender, der seine Angelegenheiten regelt. Am Dreh- und Angelpunkt des Evangeliums, im Gründungsmoment des christlichen Glaubens, das ist die redaktionelle Botschaft, wird Gott plötzlich persönlich: Kein theologischer Überbau, sondern Kommunikation auf Augenhöhe.


Das ist die vielleicht wichtigste Botschaft an Karfreitag: Gott relativiert das Leid nicht, er nimmt es persönlich.

Aber das ist noch nicht das Ende der Geschichte. Auf Karfreitag folgt Ostern, Karfreitag ist ohne Ostern nicht zu denken. Das Wunderbare der Ostergeschichte ist, dass sich das Fenster des Möglichen langsam weiter verschiebt: „Da geht also doch noch was?“, Zumindest eine Andeutung! Ein langer Kameraschwenk führt weg von Golgatha und plötzlich gerät etwas Neues in den Blick: Ein leeres Grab. In der Dramaturgie des Osterfestes, die wir bis in die Spätantike zurückverfolgen können, ist diese Horizontverschiebung aufbewahrt: Nach dem Dunkel der Nacht werden die ersten Lichter des Morgens angezündet, zart und verletzlich, dann dämmert es. Alles war verloren und plötzlich ist da wieder: „Luft nach oben“.

Für mich hat dieser beliebte und manchmal so leichtfertig gesagte Satz noch eine ganz andere Bedeutung.

Er ist jetzt mein Trojanisches Pferd in unserem Alltagsbewusstsein.

Luft nach oben, das bedeutet, dass es weder am Ende des Tages noch am Ende aller Tage immer noch Optimierungsbedarf gibt. Es bedeutet nicht, dass alles, was wir zu geben haben am Ende nicht reicht. Nein, „Luft nach oben“, das meint diesen Raum zwischen dem Kreuz und dem Himmel. Da, wo wir selber nicht mehr können, nicht mehr weiter wissen, da ist Gott. Da ist der Spielraum für Gottes Wirken, ein weiter Raum, viel weiter als das Leben und der Tod. Ein Raum für Neues, ein Raum für Trost, ein Raum sogar für Unerwartetes.

Amen.

——-

16 Da überantwortete er ihnen Jesus, dass er gekreuzigt würde. Sie nahmen ihn aber
17 und er trug sein Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha.
18 Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte.
19 Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, der König der Juden.
20 Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache.
21 Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreib nicht: Der König der Juden, sondern dass er gesagt hat: Ich bin der König der Juden.
22 Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.
23 Als aber die Soldaten Jesus gekreuzigt hatten, nahmen sie seine Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch das Gewand. Das war aber ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück.
24 Da sprachen sie untereinander: Lasst uns das nicht zerteilen, sondern darum losen, wem es gehören soll. So sollte die Schrift erfüllt werden, die sagt (Psalm 22,19): »Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen.« Das taten die Soldaten.
25 Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala.
26 Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn!
27 Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.
28 Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet.
29 Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und steckten ihn auf ein Ysoprohr und hielten es ihm an den Mund.
30 Als nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht!, und neigte das Haupt und verschied.

Text:
Foto(s):