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Haben wir wirklich schon genug?

Am kommenden Freitag feiert die szenische Bachkantate „Ich habe genug“ in der Kölner Trinitatiskirche Premiere. Als Ergänzung zu diesem Projekt bot die Melanchthon-Akademie einen Workshoptag an, der sich mit der Inszenierung, dem biblischen Kontext der Kantate und ihrem Bezug zur aktuellen Theologie des Lebens und des Sterbens befasste. An den lebendigen Diskussionen zeigte sich, welche Relevanz die Themen Lebens- und Sterbekultur für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer hat. Viele gewährten sehr persönliche Einblicke in ihre Lebens- und Glaubenswelt; was folgte, war eine offene Gesprächsrunde, der am Ende die Zeit ausging.

Zu Beginn führten Regisseurin Frauke Meyer und Komponist Martin Bechler, dessen Werk „Omega“ in der Inszenierung der Bachschen Musik gegenübergestellt wird, in ihr Projekt ein. Die Proben laufen nun, kurz vor der Premiere, auf Hochtouren. Davon überzeugten sich die Workshopbesucherinnen und -besucher dann auch selbst, als sie einen Blick in den Probenraum werfen durften. Was es dort zu sehen und zu hören gab, war vielversprechend. Spannend, schön, berührend werden die beiden Aufführungen in der Trinitatiskirche wohl werden!

Simeons Lobgesang
Auch den theologischen Hintergründen der Inszenierung widmete sich die Veranstaltung. Der Kölner Bibelwissenschaftler Professor Dr. Johann Michael Schmidt erhellte den interessierten Zuhörern die Zusammenhänge zwischen dem Kantatentext und seiner biblischen Grundlage. Johann Sebastian Bach schrieb das Werk für Solo-Bariton und Orchester anlässlich des Festes Mariae Reinigung am 2. Februar 1727. Textlich lehnt es sich an Lukas 2, 22-39 an: die Darstellung Jesu im Tempel und die Begegnung mit Simeon und der Prophetin Hanna. Diese Passage thematisiert, ausgehend von der Erfüllung der Tora durch die Eltern Jesu (das Vorstellen des Erstgeborenen im Tempel war religiöses Gesetz) und der Erfüllung der an Simeon ergangenen Prophezeiung, er werde vor seinem Tode den Heiland sehen, einen Ausblick auf das Heilswirken Jesu in Israel und an allen Völkern.

Lebensüberdruss und Todessehnsucht
Die Dichtung, welche Bachs Kantate „Ich habe genug“ vertont, baue zwar auf diesem Motiv auf, verschiebe aber deutlich den Fokus von der universalen Heilsgeschichte hin zu den individualistischen Aspekten persönlichen Lebensüberdrusses, Todessehnsucht und Jenseitsfrömmigkeit. Schmidt führt aus: „Der biblische Text bleibt im Diesseits, zielt auf das irdische Wirken Jesu mit eschatologischem Ausblick. Die Kantatentexte setzen die Auferstehungshoffnung voraus und verlagern das „Sehen“ Jesu und die leibliche Nähe zu ihm ins Jenseits.“

Barocke Todessehnsucht versus moderner Glauben?
Wie nun umgehen mit diesen bedrückenden, vom Todesgedanken geprägten Texten, wenn man Bachs wunderschöne Musik genießen wolle? Schmidt empfiehlt, sich die Umstände ihrer Entstehung und Aufführung vor Augen zu halten. Zum einen machten sich in der für die Barockdichtung so typischen Jenseitsfrömmigkeit die Auswirkungen des 30-jährigen Krieges und seiner entsetzlichen Folgen bemerkbar, zum anderen sei der Aufführungskontext immer der Gottesdienst gewesen, die Kantate sei also in einem Rahmen aus Gebeten, Lesungen und Predigt erklungen. Kommentierende Aufführungskonzepte seien deshalb auch in heutiger Zeit „ein guter Schlüssel zu diesem befremdlichen Text“.

Der Mensch in Verbundenheit
Der letzte Programmpunkt begann mit einem Impulsvortrag von Dr. Frank Vogelsang, Direktor der Evangelischen Akademie im Rheinland mit Sitz in Bonn. Als zentralen Faktor benannte er die Verbundenheit des Menschen zu anderen, zur Welt und zu Gott. „Verbundenheit ist etwas sehr Primäres“, so der Referent. Von Geburt an seien wir mit anderen vernetzt, erst danach kämen Individualisierung und Selbstbestimmung zum Tragen, sie seien „späte Produkte“ und nicht jeder Mensch habe das Ich-Sein so stark empfunden wie die Menschen heute. Für das Verhältnis zur Welt müsse gefragt werden: Wie können wir meinen, etwas distanziert und vollumfänglich betrachten zu können, dessen Teil wir sind? Wie können wir also sagen wollen, was die Welt ist? Die Rolle der Verbundenheit im biblischen Sinne zeige sich nicht zuletzt im „Vater unser“, das nicht etwa „Vater mein“ heiße, ergänzte ein Workshopteilnehmer.

Lebendige Diskussion
Die anschließende Diskussion zeigte vor allem eins: Für dieses umfängliche Thema ist eine Stunde einfach zu kurz! So viele Gedanken hatten der Impulsvortrag wie auch der gesamte Workshoptag angeregt, dass kaum alle Fragen gestellt, geschweige denn beantwortet werden konnten. Kann das Bewusstsein unserer Sterblichkeit zu einem besseren Leben verhelfen? Wie steht es um den Umgang mit sterbenden Menschen? Ist eine Erinnerungskultur die Brücke zwischen religiösen und nicht-religiösen Menschen, wenn ihnen der Tod die selben Fragen stellt? Viele neue Einsichten und mindestens ebenso viele Fragen begleiteten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Ende des gelungenen Workshops mit nach Hause – die Vorbereitung auf die Kantatenaufführung am kommenden Wochenende ist damit geglückt.

Text: Kristina Pott
Foto(s): Kristina Pott