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Gemeinsamer Unterricht für Kinder mit und ohne Behinderungen: „Bildungsgerechtigkeit in der Schule“ auf Grundlage eines evangelischen Bildungsverständnisses

Wie weh Ausgrenzung tun kann, auch wenn sie im scheinbar fürsorglichen Gewand daherkommt, weiß Pfarrer Rainer Schmidt, Conterganopfer und erfolgreicher Teilnehmer an den Tischtenniswettbewerben der Paralympics. Bis zu seinem sechsten Lebensjahr hatte Schmidt in seinem Heimatdorf im Bergischen Land selbstverständlich mit seinen Kumpels aus der Nachbarschaft gespielt. Als dann die Einschulung anstand, musste man getrennte Wege gehen. Die einen ging in die „normale“ Grundschule, Schmidt wurde an eine Schule für Behinderte verwiesen. Daran erinnerte Pfarrer Markus Zimmermann, Superintendent des Kirchenkreises Köln-Nord, bei einem Pressegespräch über den sogenannten Gemeinsamen Unterricht in der Kartause: „Da wurde mir wieder einmal klar, welche Auswirkungen auf Kinder diese Ausgrenzung hat. Schmidt wurde damals einfach so aus seinem Freundeskreis herausgerissen.“

Nur ein Stichwort von vielen: Barrierefreiheit
Auch auf höherer Ebene hat man sich inzwischen der Sache angenommen. Eine Stellungnahme zum Thema „Bildungsgerechtigkeit und Schule“ auf der Grundlage des evangelischen Bildungsverständnisses haben die Rheinische, Westfälische und Lippische Landeskirche verabschiedet. Auf deren Grundlage stellte nun der Arbeitskreis Schule des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region ein Papier vor, das die Situation und den Handlungsbedarf in Bezug auf den Gemeinsamen Unterricht (GU) in den Schulen in den vier Kölner Kirchenkreisen beschreibt (nachzulesen hier). In dem Arbeitskreis haben sich Schulleiterinnen und Schulleiter, die Schulaufsicht, Vertreterinnen und Vertreter des Schulreferates des Evangelischen Kirchenverbands Köln und Region sowie weitere Expertinnen und Experten zusammengefunden. „Die Schwierigkeiten vieler Eltern, ihre behinderten Kinder in integrativen Grundschulen unterzubringen, hat uns bewogen, dieses Thema aufzugreifen“, erklärte Otto Allendorff, Leitender Regierungsschuldirektor der Bezirksregierung Köln und Mitglied des Arbeitskreises. Er wollen, betonte Allendorff, den Schulen keinesfalls den guten Willen absprechen. Es fehle aber meistens an den „personellen Ressourcen“, und auch die baulichen Bedingungen seien in den meisten Fällen nicht erfüllt. Hier sei etwa „Barrierefreiheit“ ein Stichwort.

Integration behinderter Kinder in deutschen Schulen entspricht nicht europäischem Standard
„Jesus hat die ,Aussätzigen‘, die Behinderten, die damals vor die Tore der Stadt verbannt waren, in die Stadt hineingeholt. Wir als Kirche müssen auf jeden Fall verhindern, dass die Kinder wieder vor die Tore der Stadt geschickt werden“, sagte Zimmermann, auch stellvertretender Kölner Stadtsuperintendent. „Die evangelische Grundschule in Rodenkirchen ist da auf einem guten Weg. Aber in Bezug auf den Gemeinsamen Unterricht haben auch wir Nachholbedarf“, fuhr er fort. Nachholbedarf hat übrigens das gesamte deutsche Schulsystem. „Die Integration behinderter Kinder in die Grundschulen und danach in die weiterführenden Schulen in Deutschland entspricht nicht dem europäischen Standard. Dänemark und Italien etwa sind da schon viel weiter.“
Förderbedarf schon im Kindergarten erkennen
Angelika Köster-Leggewie, Kölner Schulamtsdirektorin, nannte konkrete Zahlen: „Von 146 Kölner Grundschulen bieten derzeit 22 Gemeinsamen Unterricht an. Im nächsten Schuljahr kommen noch drei hinzu. Rund 560 Schülerinnen und Schüler besuchen aktuell den Gemeinsamen Unterricht als Schüler mit besonderem Förderbedarf, rund 140 pro Jahrgang. Von den etwa 140 Schülerinnen und Schülern, die nach den Klasse 4 den GU an ihrer Grundschule verlassen, benötigen 50 keine weitere besondere Förderung.“ Das sind 40 Prozent – und das sei „ein Zeichen für den Erfolg des gemeinsamen Lernens im GU“, sagte sie. Köster-Leggewie bezeichnete den Anstieg der Plätze im GU in den vergangenen Jahren als „Quantensprung“. Darüber hinaus gehe man auch förderdiagnostisch andere Wege als früher. Immer wichtiger werde die Prävention in den Kindergärten. Wenn Förderbedarf erkannt werde, könne man die Eltern frühzeitig beraten: „Angestrebt wird auf jeden Fall eine Schulkarriere ohne Brüche“, erklärte Köster-Leggewie und fweiter: „Wünschenswert wäre aus unserer Sicht darüber hinaus, dass ausreichend wohnortnahe Plätze im GU zur Verfügung stehen, damit alle interessierten Eltern die Möglichkeit haben, ihr Kind integrativ beschulen zu lassen.“ Die Wohnortnähe der Schule sei wichtig, um den Freundeskreis etwa aus dem Kindergarten zu erhalten.

Ökonomische Richtlinien allein dürfen nicht den Ausschlag geben
Superintendent Zimmermann kritisierte den gesellschaftlichen Drang zur „Beschleunigung“, der sich auch im Bildungswesen niederschlage: „Es darf nicht nur darum gehen, in den Schulen Leistungsträger nach streng ökonomischen Richtlinien zu produzieren. Ziel muss sein, alle Kinder in ihrer Kreativität zu stärken und soziale Kompetenz durch das Miteinander zu stärken. Wir brauchen kleinere Klassen mit besserer individueller Förderung.“ Dies solle nicht als Kritik an den Lehrern verstanden werden. Vielmehr müsse man sich über das deutsche Bildungssystem generell Gedanken machen. Es sei nicht besonders ratsam, angesichts der schulischen Leistungen von Neunjährigen bereits über die Schulform zu entscheiden, die sie nach der Grundschule besuchten. Zimmermann würdigte ausdrücklich den Beschluss des Kölner Stadtrates, die GU-Plätze mittelfristig zu verdoppeln und die Zuschüsse des Landschaftsverbandes Rheinland für Bau- und Therapiekosten in den Schulen, die durch den GU entstehen.

Schule darf – nicht nur aus christlicher Sicht – niemanden ausschließen
Der Arbeitskreis Schule will die Entwicklung mit Fortbildungsangeboten im Schulreferat des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region begleiten. „Und wir wollen das Thema in dem gesellschaftlichen Diskurs verankern“, sagte Dr. Rainer Lemaire, Schulreferent des Kirchenverbandes. Er verwies auf das Beispiel Schweden: “ Dort wird die Schule als die Gesellschaft von morgen angesehen. Und diese Schule darf, auch aus christlicher Sicht, niemanden ausschließen.“

Text: Stefan Rahmann
Foto(s): Rahmann