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Erinnern und Vergessen: Die traumatischen Erlebnisse der so genannten Kriegskinder

Frau S. war ein zehnjähriges Mädchen, als sie mit ihrer Familie in den Bombenhagel geriet. Ihre Mutter und zwei Brüder waren sofort tot. Sie wurde mit einem der Brüder verschüttet, der unter ihr lag. Er starb kurz danach, sie fiel in Ohnmacht, wurde später gerettet. Ihr Vater, ein angesehener Arzt, konnte den Verlust nicht verwinden, wurde opiatsüchtig und ging langsam zugrunde. Frau S. zog fort, heiratete in der „Wirtschaftswunderzeit“, bekam drei Kinder und lebte in gut situierten Verhältnissen. Trotzdem gelang es ihr nach eigenen Worten nie, mit ihrer Familie eine „glückliche Form des Zusammenlebens“ zu finden. Bei einer Gedenkveranstaltung in ihrer Heimatstadt für die Opfer des Bombenkriegs brach sie dann völlig unvorbereitet in Tränen aus.

Jahrzenhntelang verdrängt
„Dieser Fall ist ein typisches Beispiel. Häufig haben die ,Kriegskinder‘ ihre Erfahrungen über Jahrzehnte verdrängt. Sie nutzten die Rationalisierung des Erlebten als Überlebensstrategie“, fasst Sabine Bode, Journalistin und Buchautorin, diesen Abschnitt aus dem Leben von Frau S. zusammen. 

Bode war neben Peter Liebermann, Traumaforscher und Psychiater, Referent bei einer Veranstaltung der Melanchthon-Akademie unter dem Titel „Krieg und vergessene Trauer“ unter der Moderation von Brigitte Gensch, Pfarrerin zur Anstellung in der Melanchthon-Akademie.

Im Mittelpunkt standen die traumatischen Erlebnisse der so genannten „Kriegskinder“ in den Bombennächten des Zweiten Weltkrieges. Bode wird in Kürze ein Buch auf den Markt bringen mit dem Titel „Die vergessene Generation. Kriegskinder brechen ihr Schweigen“. Dafür hat sie zahlreiche Interviews mit Betroffenen geführt und ist zur ihrer Überraschung oft auf Ablehnung gestoßen. „Mir hat das nicht geschadet. Anderen ist es viel schlechter ergangen: ‚Es gab auch schöne Zeiten‘. Oder: ‚Das interessiert doch keinen mehr‘ „, waren Sätze, denen sie bei ihren Interviews immer wieder begegnete.

Alle Trauma-Opfer brauchen Solidarität
„Die Leute konnten ihre Opferrolle nicht annehmen. Deutsche stilisieren sich als Opfer? Sollen da etwa die Holocaust-Leichen gegen die Kriegsopfer aufgerechnet werden?“ seien die Fragen gewesen, die eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Schicksal verhindert hätten. Nun aber entstünde ein Generationsbewusstsein, so Bode. Die „Kriegskinder“ stünden nicht mehr im Beruf, seien nicht durch die Kindererziehung eingespannt und hätten Zeit und Muße, sich mit sich selbst zu beschäftigen. „Diese Menschen brauchen Solidarität, damit sie das Drama ihres Lebens betrauern können“, forderte Bode. Die Traumaforschung habe herausgefunden, dass die Opfer den Trost der Gemeinschaft erfahren müssen. „Dir ist Unrecht widerfahren“, sei der zentrale Satz, der tröste. In Deutschland habe die öffentliche Unrechtsbezeugung gegenüber NS-Verbrechen immer nur im Gerichtssaal stattgefunden. Dort stehe aber der Täter im Mittelpunkt, nicht das Opfer. „Mangelnde Opferempathie“ hat Bode in der Gesellschaft ausgemacht. „Nie wieder Auschwitz“ sei von nahezu allen als „moralische Pflicht“ empfunden, das Mitleid mit den „Kriegskinder-Opfern“ vergessen worden. Auf deren Seite sei das Trauern zu kurz gekommen. „Trauer bedeutet, das eigene Leben mit seinen Verlusten wahrzunehmen und Frieden zu schließen mit dem eigenen Schicksal“.

Text: Rahmann
Foto(s): Melanchthon-Akademie