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Dr. Rainer Stuhlmann berichtete von seiner Arbeit in Nes Ammim

50 Jahre besteht das internationale christliche Dorf Nes Ammim („Zeichen für die Völker“) im Norden Israels. Seine Gründung geht zurück auf Christinnen und Christen aus den Niederlanden, der Schweiz und Deutschland. Zugrunde lag (und liegt) dem Projekt insbesondere der Wille, vor dem Hintergrund des Antisemitismus und der Schoah eine aktive Versöhnungsarbeit in religiöser und kultureller Vielfalt zu leisten. Zudem der Wunsch, ein Zeichen der Unterstützung für den jungen israelischen Staat und dessen Bevölkerung zu setzen. Noch heute soll dort das Lernen vom Judentum gleichzeitig zum Kennenlernen der Wurzeln des Christentums führen.

„Land und Leute“ näher bringen
Seit 2011 fungiert Dr. Rainer Stuhlmann als Studienleiter in dem nahe Akko und Naharija gelegenen Lern- und Begegnungsort. Dort vertritt der pensionierte Pfarrer, der zuletzt Schulreferent im Evangelischen Kirchenverband Köln und Region war, die Evangelische Kirche im Rheinland (EKiR). Sie ist seit Beginn an Nes Ammim finanziell und ideell verbunden. Der gebürtige Wuppertaler Stuhlmann, Jahrgang 1945, verantwortet das Programm für die Volontäre, Reise- und Studiengruppen. Unter anderem beinhaltet es Seminare, Tagesausflüge und mehrtägige Exkursionen, in denen er den Mitarbeitenden und Gästen „Land und Leute“ näher bringt.

Recht auf viele Standpunkte
Im Rahmen eines Deutschlandbesuches kehrte Stuhlmann jetzt zu seiner alten Wirkungsadresse zurück. In einer Kooperationsveranstaltung des Evangelischen Schulreferates und Pfarramts für Berufskollegs sowie der Melanchthon-Akademie gab er im Haus der Evangelischen Kirche in der Kölner Südstadt Einblick in seine Arbeit. Eingangs begrüßte Schulreferentin Utta Brauweiler-Fuhr ihren ehemaligen Kollegen. Den gut 60 Gästen stellte sie ihn als gereiften Theologen vor, der sich früh am christlichen-jüdischen Dialog beteiligt und immer weiter gelernt habe. Er habe verstanden, wo aus christlicher Sicht die falsche Auslegung bestehe. Nun sei er in dieser polaren Welt im Nahen Osten tätig, wo ganz viele Standpunkte ihr Recht hätten.

Von den Juden lernen
„Und er ist ein Erzähler“, ergänzte Brauweiler-Fuhr. Den Beweis trat Stuhlmann umgehend an. Mittels Fotografien und anschaulicher Schilderung zeichnete der Theologe kenntnisreich ein differenziertes Bild eines komplexen politisch-religiös-kulturellen Geflechts. Den Einstieg wählte er über die Erläuterung einer zehn Jahre alten Luftaufnahme des Dorfes und seiner Umgebung: „Nes Ammim liegt wie eine Insel in einem landwirtschaftlichen Meer.“ Die Christen, die Ostern 1963 hier Fuß gefasst hätten, hätten vor dem Hintergrund der Schoah gefragt: Was können wir tun? Sie hätten den über fast 2000 Jahre eingeübten christlichen Antijudaismus als eine Wurzel des Antisemitismus‘ verstanden. Diese Überlegenheitshaltung habe sich mit anderen Wurzeln des Antisemitismus‘ verbunden und gemeinsam mit entsprechenden Ideologien zum Holocaust geführt. „Nun strebten sie das Gegenteil an.“ Nicht die Juden belehren, habe ihr Ziel gelautet, sondern von ihnen lernen.

Studien- und Begegnungszentrum
Hinweisend auf die Gewächshäuser im Bild, skizzierte Stuhlmann die viele Jahre bedeutendste Einnahmequelle der Siedlung: Die Aufzucht von insbesondere Rosen für den Export nach Europa. Doch das sei Geschichte. 2000/2001 habe man sich den preiswerteren Blumenproduzenten in Kenia und Honduras beugen müssen. „Binnen weniger Monate brach die Rosenzucht zusammen.“ Doch das habe nicht das Ende von Nes Ammim bedeutet. Die Israelis hätten der Gemeinschaft der Voluntäre versichert: Ihr habt ein großes Vertrauenskapital angesammelt. Wir brauchen Euch. So habe man entschieden, die Adresse als Studien- und Begegnungszentrum weiterzuführen – mit dem 1978 errichteten Gästehaus/Hotel als wirtschaftliche Grundlage.

Innerisraelischer Dialog
Derzeit sei die Umnutzung des Areals im Gange. Die landwirtschaftlichen Flächen sollen in Bauland umgewandelt werden, anstelle der Treibhäuser ein Wohngebiet für jüdische wie arabischsprachige Israelis entstehen. „Wir 40 Europäer bleiben, bilden die Minderheit“, so Stuhlmann. Zwar werde das den Charakter von Nes Ammim verändern, aber nicht die Idee. Vielmehr gehe der äußere Umbruch einher mit einer inhaltlichen Erweiterung. Zum jüdischen Lehrhaus für Christinnen und Christen, zum christlich-jüdischen Gespräch solle der innerisraelische Dialog treten, der zwischen arabischen und jüdischen Israelis. In Nes Ammim sollten sich alle auf Augenhöhe begegnen und lernen im Geben und Nehmen.

Sensibel für den Nachbarn werden
„Das ist das, was wir in Nes Ammim machen“, erläuterte Stuhlmann. Nes Ammim sei unverändert ein Ort des Lernens für nicht jüdische Europäer. Und werde ein neutraler, Hoffnung stiftender Ort auch für die Begegnung von Juden und Palästinensern. Es gehe darum, sensibel zu werden für den jeweiligen Nachbarn. Um Gespräche zwischen Menschengruppen, die vielleicht noch nie mit der anderen „Seite“ gesprochen hätten. Sie erzählten sich jeweils die Geschichte ihrer Eltern, ihre persönliche Geschichte, kämen ins Staunen darüber, was die anderen berichteten, so Stuhlmann. Aus gewachsenen Vorurteilen könne so Verständigung erwachsen, verwies der Studienleiter auf verschiedene arabisch-jüdische Dialoggruppen, die man in Nes Ammim willkommen heiße. In diesem Rahmen fänden auch Jugendbegegnungen statt. Zu diesen gehörten Vertrauensspiele in gemischten Kleingruppen, wo es darum gehe, sich fallen zu lassen und aufgefangen zu werden. „Damit wird nicht die Welt bewegt, aber es sind die kleinen Schritte, denen sich Nes Ammim verpflichtet fühlt.“

Koscheres Warenangebot
Nes Ammim sei ein europäisches Dorf mitten im Kreis von jüdischen Kibbuzim und muslimischen, arabisch-christlichen, drusischen und gemischten Dörfern, erläuterte der Referent. 20 Prozent der Israelis seien keine Juden, gehörten anderen Gruppierungen an. Wiederum 80 Prozent dieser 20 Prozent lebten im Norden Israels, in Galiläa. „Und da haben an vielen Stellen Juden nicht die Mehrheit.“ Die Uhren gingen hier anders als in Jerusalem, erst recht als in den besetzten Gebieten. Dies belegte Stuhlmann mit Fotos von einem Supermarkt in Nacharija, in dem auch die Volontäre einkauften. Dieser sei von seinem palästinensischen Besitzer aufgebaut wie ein arabischer Suk (Basar) und verfüge über ein koscheres Warenangebot. Auf den projizierten Aufnahmen waren ein religiöses jüdisches Paar ebenso wie ein israelischer Soldat beim Einkauf zu erkennen. „Hier ist die Kassiererin eine muslimische Palästinenserin und der israelische Soldat bezahlt bei ihr seine Rechnung.“

Osterfest solidarisch feiern
Stuhlmann wies hin auch auf die kleinen Symbole im Alltag, etwa auf israelische Autokennzeichen, mit denen sich die Fahrzeugführenden als muslimische oder christliche Palästinenser, als Araber oder Juden zu erkennen gäben. Damit demonstriere man ein gewachsenes Selbstbewusstsein. In einer orthodoxen Kirche in Akko, so der Theologe, werde das Vaterunser mit Blick auf osteuropäische Einwanderer gleich in vier Sprachen gebetet: arabisch, griechisch, rumänisch und russisch. Ebenso brachte er am Beispiel einer palästinensisch-lutherischen Gemeinde die Praxis zur Sprache, dass über alle westlichen Regeln hinweg deren Mitglieder die Feier des Osterfestes solidarisch auf den späteren orthodoxen Termin legten.

Theologen regelmäßig zu Gast
In Nes Ammim habe man regelmäßig Rabbiner wie Theologen zu Gast. Darunter den profilierten palästinensischen Baptisten Dr. Yohanna Katanacho, Professor am Bethlehem Bibel-College und Mitverfasser des Kairos-Papiers „Die Stunde der Wahrheit: Ein Wort des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe aus der Mitte des Leidens der Palästinenser und Palästinenserinnen“ von 2009. „Er unterrichtet uns in der Geschichte und Situation der palästinensischen Christen in Israel“, so Stuhlmann. Katanacho sage hinsichtlich des Nachdenkens über den Holocaust, über den aus der Reue erwachsenen Willen, von Juden zu lernen: „Was ihr gelernt habt, das müssen wir noch lernen. Wir sind noch nicht soweit“. Denn, so Stuhlmann, „wenn Palästinenser von Juden lernen, dann müssen sie von Juden lernen, die Besatzer sind, die Dörfer zerstört haben. Und Katanacho ist ein Dialog wichtig zwischen europäischen und palästinensischen Christen und Rabbinern, wenn es darum geht, voneinander zu lernen.“

Besseres jüdisch-arabisches Verständnis
Stuhlmann erzählte von ganz unterschiedlichen Begegnungen zwischen jüdischen und arabischen Israelis. Sie kämen beispielsweise in den Trümmern eines arabischen Dorfes bei Nazareth zusammen und erzählten einander ihre Geschichte: „Together in pain, togehter in hope“ laute das Motto. „Am Ende wächst daraus die Haltung: Wenn Menschen sich öffnen für die Leiden der anderen, können sich die anderen öffnen für die Leidensgeschichte der einen.“ Weiter berichtete Stuhlmann vom Engagement der Jüdin Lydia Aisenberg, Jahrgang 1946. In einer britischen Kleinstadt aufgewachsen und dort dem „alltäglichen, banalen Antisemitismus“ ausgesetzt, sei sie als junge Frau nach Israel ausgewandert. Seit vielen Jahrzehnten sei sie eine flammende Kämpferin auch für die Rechte der Palästinenser in Israel und der Westbank, für ein besseres jüdisch-arabisches Verständnis und Zusammenleben. Diesem seien die Mauern und Zäune der „Grünen Linie“ wenig förderlich. So wird die Städte, Dörfer und Grundstücke, letztlich Familien und Freunde teilende Demarkations-/Waffenstillstandslinie zwischen Israel und beispielsweise dem Westjordanland genannt. Erst recht dann nicht förderlich, wenn man sehe, dass durch israelische Eingriffe der reale Verlauf von der festgelegten Linie abweiche und vielfach tief in die Westbank einschneide. „In der Summe ist sie drei mal so lang“, betonte Stuhlmann.

Verweildauer vier Monate
In der abschließenden Fragerunde erkundigten sich die Gäste nach der Zahl und den Aufgaben der Freiwilligen in Nes Ammim. Derzeit hielten sich dort 30 bis 35 deutsche und andere europäische Voluntäre auf, so Stuhlmann. „Sie betreiben das Hotel, arbeiten in der Küche, Verwaltung, im Gartenteam oder technischen Dienst.“ Die eine Hälfte sei 18 bis 20 Jahre alt, komme nach dem Abitur hierher; die andere Hälfte im Anschluss an ein Studium, in einer beruflichen Pause oder im Rentenalter. Die meisten blieben ein bis vier Monate, andere länger in der „internationalen, ökumenischen und altersgemischten Gemeinschaft“.

Aufregend im positiven Sinn
„Das hört sich sehr kompliziert und undurchschaubar an. Man tappt von einem Fettnäpfchen ins andere“, bezog sich eine Frau auf Stuhlmanns Ausführungen. „Ja, das hört sich schwierig an, das alles. Man darf nicht erwarten, dass man den Durchblick kriegt. Man geht mit mehr Fragen, als man gekommen ist“, so der Referent. Er verglich das komplexe Geflecht mit dem Blick in ein Kaleidoskop mit sich ständig verändernden Bedingungen und Konstellationen. „Aber das macht sie nicht depressiv, das ist aufregend im positiven Sinne, in einer gewissen Geschütztheit. Man gewinnt ganz viel an Lebenserfahrung. Junge Leute sprechen von einer ganz wichtigen Phase ihres Lebens.“ Wenn man dort nicht von Hause aus alle Leute belehren wolle, habe man keine Probleme, gab Stuhlmann eine elementare Verhaltensregel an die Hand.

Wechselnde Loyalitäten
Neutral sein könne man in diesem Land nicht. Daher müsse man wechselnde Loyalitäten versuchen. „Das ist anders als neutral. Wo Palästinensern Unrecht passiert, beziehe ich für sie Position, ohne gegen Israel zu sein“, stellte Stuhlmann fest. „Ich meine, Israel zu unterstützen, indem ich Menschen unterstütze, die für Zusammenarbeit sind.“ Ob ein oder zwei Staaten, entscheidend sei, dass die Menschenrechte keinem vorenthalten würden. „Es gibt keine Freiheit für Palästina ohne Sicherheit für Israel und umgekehrt.“ Wenn man die Medien verfolge, scheine alles so klar zu sein mit den Menschrechtsverletzungen in Israel. Aber die Fixierung auf den israelisch-palästinensischen Konflikt und eine aggressive Siedlungspolitik sei eben nicht alles, betonte Stuhlmann die Bedeutung Israels als einzigen demokratischen, an den Menschenrechten orientierten Staat in der Region. Und man müsse sehen: Seit es Israel gebe, sei es ein bedrohter Staat, dessen Nachbarn erklärten, ihn vernichten zu wollen. So hänge in der lutherischen Schule in Ramallah im palästinensischen Autonomiegebiet noch immer eine Landkarte, die die Einstaatenlösung Palästinas zeige. Diese Karte predige: Israel dürfe es nicht geben.

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich