You are currently viewing „angerichtet!“ geht ans Eingemachte oder: Über- Lebensgeschichten aus erster Hand. Die „Luthersenioren“ veröffentlichen ihr zweites Buch

„angerichtet!“ geht ans Eingemachte oder: Über- Lebensgeschichten aus erster Hand. Die „Luthersenioren“ veröffentlichen ihr zweites Buch

„Die vergessene Generation“ nannte Sabine Bode die Menschen, die die Kriegs- und Nachkriegszeit er- und überlebt haben, als Kinder, Teenager oder „Halbstarke“ und als blutjunge Erwachsene. Statt Parties zu feiern, um die Welt zu reisen, einen Ausbildungsplatz zu suchen oder sich ins Studium zu stürzen, trugen sie Uniformen, überlebten Bombardierungen, organisierten Essbares oder mussten bereits eigene Kinder ernähren. Über ihre Erlebnisse sprachen sie lange nicht. „Wen interessiert das, was wir erlebt haben?“ fragten sich auch die Männer und Frauen, die sich seit Jahren regelmäßig im offenen SeniorInnenkreis der Lutherkirche in der Kölner Südstadt treffen. Pfarrer Hans Mörtter war da anderer Meinung: „Wir brauchen eure Geschichten. Sie sind wichtig!“. Schon 2005 erschien unter dem Titel „Als wir noch schön und hungrig waren“ ein Buch mit „Kochgeschichten“ der SeniorInnen aus Kriegs- und Nachkriegszeit. Ihr neues Buch „angerichtet! Vom Überleben in schlimmer Zeit“ greift das Thema auf, aber diesmal geht es „ans Eingemachte“.

„Nicht vollständig, aber echt“
23 Seniorinnen und Senioren der Gemeinde, von denen vier inzwischen verstorben sind, aus den Jahrgängen zwischen 1907 bis 1947, steuerten Erinnerungen bei, aus denen innerhalb von drei Jahren ein Buch wurde. So breit gefächert wie ihre Altersspanne ist auch ihr Erleben: Günthers Vater war überzeugter Nationalsozialist, Adolf fand als Mitglied der Katholischen Jugend nach der Schule keine Arbeit. Charlotte entging nur knapp einer Vergewaltigung, Johanna sah von einem Vorort aus die Bombardierung Dresdens. Sie stammen aus Köln, aber auch aus Danzig, Oldenburg oder Berlin. Manche kamen durch Heirat nach Köln, anderen wurde die Stadt nach ihrer Flucht die neue Heimat. „Typisch kölsch“ an dem Projekt, so Hans Mörtter, ist eher, dass wir geglaubt haben, dass wir dieses Buch hinkriegen“. Die Erinnerungen sind Bruchstücke, und sie haben nur ein Thema: das Überleben. Das Buch erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, aber gerade das Fragmentarische macht die Erinnerungen der Frauen und Männer authentisch, ganz unsentimental und „echt“ im Erlebten.

Zeit und Vertrauen
Drei Jahre vergingen von der Idee bis zum druckfrischen Buch. Als professionelle Redakteurin nahm sich die Journalistin Helga Fitzner der Sache an und führte die Interviews. „Nach dem Eichhörnchen-Prinzip habe ich erst einmal alles gesammelt“ erinnert sie sich. „Wir wollten mit dem Buch eher Lichter setzen“ betont sie angesichts der Materialfülle. Fast jede Lebensgeschichte lieferte schließlich genug Stoff für ein eigenes Buch. Ihr Prinzip bei den Interviews: Die Grenzen der Seniorinnen und Senioren zu akzeptieren, auch wenn sie dafür auf manche bewegende oder interessante Geschichte verzichten musste. Manche gaben nach längerem Zögern dann doch noch ihr Einverständnis, auch höchst schmerliche Geschichten zu veröffentlichen. Eine Seniorin berichtete von ihrer Flucht aus Danzig, von Müttern, die ihre verstorbenen Kinder im gefrorenen Boden nicht begraben konnten und sie deswegen am Weg ablegten. „Erst später rief sie mich an und sagte: „Du kannst das von den Kindern schreiben, aber sprich mich nie wieder darauf an“. Zwei der Faktoren, dass dieses Buch zustande kommen konnte, sind die Zeit, die alle Beteiligten in das Projekt investiert haben – und das Vertrauen, das sie sich gegenseitig entgegenbrachten.
„Erinnerungen sind nie politisch korrekt“ fasst Fitzner die Ambivalenz, die die Geschichten prägt, zusammen. „Der Reichsarbeitsdienst“, erinnert sich Liselotte Hinz, „hieß für uns auch `endlich mal raus aus der Familie´ und die Gemeinschaft war auch schön. Aber dass man immer Programm hatte, nie machen konnte was man wollte, nicht“.

Ingeborg Niesen
Ambivalent war auch die Erfahrung von Ingeborg Niesen (1921 bis 2007), der das Buch gewidmet ist. Sie war die treibende Kraft hinter dem ersten Buch, den „Kochgeschichten“, mit dem Titel „Als wir noch schön und hungrig waren….“ Das 2005 erschienene Buch war schnell ausverkauft und es stand fest, dass die Gruppe ein neues Priojekt in Angriff nehmen wollte. In der ersten Zeit arbeitete Fitzner noch Seite an Seite mit Niesen, bis zu deren Tod. Jetzt erinnert sich Fitzner an die Zeitschriftenredakteurin, Autorin und Illustratorin beider Bücher: „Sie war im BDM und fand das damals gut“. Niesen sei „eine der treibenden Kräfte hinter dem Buch“ gewesen. In „angerichtet!“ berichtet Niesen davon, wie sie in der Nachkriegszeit eine Aufführung von Lessings „Nathan der Weise“ sah und erschüttert davon war, dass nach diesem Plädoyer für Toleranz Hitlers Rassenwahn noch immer möglich sein konnte. Von der Lebensfreude, dem Wunsch nach ein wenig Luxus, der im Kampf ums Überleben nicht zum Erliegen kommt, zeugt ihr Bericht über ihren Berufseinstieg: Als sie die Wahl zwischen dem Geld fürs tägliche Mittagessen oder einem eleganten Mantel hatte, kaufte sie den Mantel und aß Butterbrote. Ein Kollege gab ihr daraufhin regelmäßig von seinem überschüssigen Eintopf – transportiert im „Henkelmann“ – ab.

Eine Kriegsliebe – 64 Jahre lang
Den Brückenschlag zur Gegenwart übernehmen die letzten beiden Kapitel. Die Lebensenergie, die viele Kriegsüberlebende kennzeichnet, schildert die Liebesgeschichte von Heinz und Hanna Effers, die Heiligabend 2009 ihren 64. Hochzeitstag feiern. Als 19- und 20-jährige lernten die Norddeutsche und der Kölner sich kennen, überlebten die letzten Kriegstage und gingen zusammen nach Köln.
In dem Gespräch zwischen Fitzner und Mörtter, das das Buch abschließt, setzen sich Nachgeborene mit ihrem Verhältnis zur Elterngeneration und dem heutigen Wissen über die Geschichte auseinander. Den Grundgedanken dieses Gesprächs formuliert Mörtter dabei folgendermaßen: Je mehr Menschen versuchen, schreckliches Erleben zu verdrängen, umso stärker bleibe es in „verwurzelt..“ Erst, indem „ich darüber rede, entwickle ich mich weiter“. Das ist für den Südstadt-Pfarrer Kern und Ansporn dieses Buches: Wenn ich die Vergangenheit nicht verstehe, habe ich keine Zukunft. So waren sich die Beteiligten auch einig darüber, dass alle Kriege gleich schrecklich seien – ob Zweiter Weltkrieg oder Irakkrieg. „Die Grundfrage ist hier, ob ich aus solchen Geschichten lernen kann“, formuliert Mörtter am Ende des Buches.

Das Buch
wurde gestaltet von dem Grafiker Hermann Vogel, viele Fotos stammen von den Zeitzeugen selbst, andere kamen dazu, um das Gesamtbild zu vervollständigen. Es hat 216 Seiten, 162 Abbildungen und 12 Zeichnungen.

„angerichtet! Vom Überleben in schlimmer Zeit“ ist ab 21. Dezember zum Preis von 19,80 Euro im Buchhandel erhältlich. ISBN 978-3-00-029644-4

Es kann auch in der Evangelischen Informationsstelle Köln, im Pavillon an der Antoniterkirche, mitten in der Fußgängerzone, Schildergasse 57 gekauft werden. Öffnungszeiten: montags bis freitags: 12 bis 16 Uhr, donnerstags 12 bis 18 Uhr
Uhr, in der Vorweihnachtszeit auch samstags. Telefon: 0221 / 660 57 20.

Text: Annette v. Czarnowski
Foto(s): v. Czarnowski