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Protestantismus und Manieren: Fehlende Manieren dürfen nicht zum Kennzeichen unserer Religion werden

Auf den ersten Blick mag der Titel einer der jüngsten Publikationen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) seltsam erscheinen: „Die Manieren und der Protestantismus“ heißt das 176 Seiten dicke Buch und es räumt gleich selbst im Untertitel ein, dass es sich hier um „Annäherungen an ein weithin vergessenes Thema“ handelt.

Manieren = die Kultur der Achtsamkeit
Das Thema „Manieren“ sei wieder „in“, so eine Pressemitteilung der EKD zu dem Buch, die Deutschen studierten wieder Manieren-Fibeln und besuchten Etikette-Kurse, wird da festgestellt. Aber: „Manieren sind weit mehr als ein Set von äußerlichen Verhaltensregeln, die man lernen und einüben kann. Sie sind Ausdruck einer inneren Haltung. Als Kern der Manieren erweist sich eine Kultur der Achtsamkeit, ein Umgang miteinander, in dem sich die Liebe zum Nächsten wie zu sich selbst spiegelt.“

Was trägt der Protestantismus dazu bei, den Boden zu bereiten, auf dem gute Manieren wachsen?
Die Pressemitteilung weiter: „Gute Manieren fallen nicht vom Himmel, und sie wachsen nicht auf jedem Boden. Eine Kultur der Achtsamkeit braucht Quellen, aus denen sie sich speist, und Kräfte, von denen sie lebendig erhalten wird. Was trägt das Christentum, was trägt speziell der Protestantismus heute dazu bei, den Boden zu bereiten, auf dem gute Manieren wachsen?“
Diese Frage ist die Kernfrage des Buches. Seine Beiträge gehen auf eine Tagung zurück, auf der sich der Rat der EKD und die leitenden Geistlichen der Gliedkirchen mit dem Thema „Manieren“ beschäftigt haben. 

Ein äthiopischer Prinz hat uns Deutschen die „Manieren“ wieder ins Bewußtsein gerufen
Interessant genug: Ausgerechnet ein äthiopischer Prinz war es, der uns Deutschen, und speziell den Protestanten das Nachdenken über unsere eigenen Manieren wieder ins Bewußtsein rückte. Denn: Gast dieser Tagung war unter anderem Prinz Asfa-Wossen Asserate. Der Begründer der ersten Menschenrechtsorganisation für Äthiopien, studierte Historiker und Rechtswissenschaftler, Journalist und ehemaliger Pressechef der Düsseldorfer Messegesellschaft ist heute in Frankfurt Unternehmensberater für Afrika und den Nahen Osten. Als Prinz und Großneffe des damaligen Kaisers Haile Selassie wurde er 1948 in Addis Abeba geboren, die äthiopische Revolution kostete seinen Vater das Leben, seit 1974  lebt Asserate in Deutschland, wo er auch studiert hat. 2003 veröffentlichte er ein Buch über „Manieren“, das – als Vorabdruck in der FAZ erschienen – die Diskussion über die Manieren in Deutschland neu belebte. 2004 wurde sein Buch mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet, einem Preis für deutsch schreibende Autoren nicht-deutscher Muttersprache.
Es sei „freilich nicht nur der Umgang mit der deutschen Sprache, sondern darüber hinaus das Bewandertsein in deutscher und europäischer Kultur, was an diesem Autor beeindruckt“, schreibt der EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber in einer Fußnote seines Vorworts.
In den in der EKD-Schrift von Asserate abgedruckten zwei Kapiteln fragt er – aus kulturhistorischer Sicht – „Warum Manieren?“ und untersucht außerdem  – höchst aufschlussreich – „die Manieren und die Religion.“

Weitere Autoren und Beiträge
Vizepräsident Hermann Barth in seiner Bibelarbeit über einen Text aus Jesus Sirach und Bischof Axel Noack in seiner Andacht über einen Abschnitt aus dem Philipperbrief lassen spüren, in welcher Intensität biblische Texte der „Kultur des Alltags“ zugewandt sind und wie viel sich daraus für ein heutiges Nachdenken über das Thema lernen lässt.
In einer theologiegeschichtlich-systematischen Betrachtung widmet sich der Münchener Theologieprofessor Jan Rohls der Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Geist des Protestantismus und dem Prozess der Zivilisation. In seiner groß anlegten Darstellung schlägt er einen weiten Bogen von der 1530 veröffentlichten Schrift des Erasmus über die Eingewöhnung der Jugend in die Umgangsformen bis hin zur aktuellen US-amerikanischen Diskussion über Zivilität.

„Formlosigkeit“, sprich: das Fehlen von Manieren, darf nicht zum Kennzeichen des Protestantismus werden
Huber formuliert erste Konsequenzen aus dem – für viele Protestanten sicher noch ungewohnten – Diskurs:
1. „Wenn Formlosigkeit oder Formenarmut als ein Kennzeichen des (gegenwärtigen) Protestantismus angesehen werden muss, dann kann dieses Kennzeichen nicht zu den Stärken des Protestantismus gezählt werden. Die verbreitete Warnung vor Äußerlichkeiten erscheint vielmehr – angesichts von deren offenkundigem Fehlen – eher als hohl … Eine Balance zwischen Innen und Außen, zwischen Haltung und Form, zwischen Glauben und Ritus zu erreichen bildet vielmehr eine große, keineswegs gelöste Aufgabe. Denn auch die evangelische Freiheit verträgt sich mit Formen, ja sie verlangt nach Formen.“
2. „Manieren gibt es auch im Gottesverhältnis … Allein Gott die Ehre zu geben, auf sein Wort zu hören, die Gemeinschaft mit ihm zu feiern und dem Heiligen mit Ehrfurcht zu begegnen – diese Grundhaltungen des Glaubens sind nicht formlos und deshalb nicht ohne Manieren.“
3. Es hat einen „guten inneren Sinn, wenn man die Liturgie als Schule der Manieren bezeichnet … Im christlichen Gottesdienst sind die Sakramente ein besonders wichtiges Bewährungsfeld der Manieren. Die Feier von Taufe und Abendmahl sollte von sakramentaler Achtsamkeit geprägt sein.“
4. „Es gibt ein bleibendes und unaufgebbares Recht zur Rebellion gegen Manieren … Aber wenn eine solche Rebellion in der Formlosigkeit endet, ist sie noch nicht am Ziel.“
5. „Die Formensprache des Glaubens wie der Nächstenliebe weiterzugeben gehört zum Bildungsauftrag der Kirche. Allein schon in diesem Sinne bilden die Manieren ein wichtiges Thema kirchlicher Bildungsarbeit.“

Zu beziehen ist das Buch „Die Manieren und der Protestantismus. Annäherung an ein weitgehend vergessenes Thema“ zum Preis von 2,37 Euro zzgl. Mwst., Kirchenamt der EKD, Versand, Herrenhäuser Straße 12, 30419 Hannover, Telefax: 0511/2796-457; Email: versand@ekd.de 
Oder Sie drucken es hier als pdf-Datei selbst aus.

Literatur-Tipps
Grund zu glauben, Grund zu streiten„. Ein Interview mit Prinz Asfa-Wossen Asserate von Chrismon (172005)
„Aber natürlich!  Mit Charme und Witz lehrt der äthiopische Aristokrat Asfa-Wossen Asserate die Deutschen Manieren.“ Ein ZEIT-Beitrag von Susanne Mayer
Eine Sammlung der Rezensionen zu Asserates Buch von „Perlentaucher“
Ein Interview mit Asfa-Wossen Asserate von Hanno Gerwin, ERB Medien GmbH





Text: AL/EKD
Foto(s): EKD