You are currently viewing Ist Mülheim im Aufbruch?

Ist Mülheim im Aufbruch?

Evangelische Christinnen und Christen sowie protestantische Unternehmer prägten die Geschichte Mülheims als Industriestadt, die Evangelische Kirchengemeinde Mülheim am Rhein feiert dieses Jahr ihr 400-jähriges Bestehen. Seit dem Niedergang der rechtsrheinischen Industrie bestimmen vor allem die zukünftige Nutzung von (Industrie)-Brachen und der Kampf gegen Verwahrlosung die Diskussionen um die Zukunft des Stadtteils. Dies war auch beim 2. „Mülheimer Gespräch“ in der evangelischen Friedenskirche nicht anders. Die Diskussion um die Frage „Mülheim im Aufbruch?“ wurde bestimmt von zwei Themen: dem Förderprogramm Mülheim 2020, das nur stockend in Gang kommt, und der weiteren Nutzung des ehemaligen Güterbahnhofsgeländes zwischen Markgrafenstraße und Schanzenstraße. Unter der Moderation von Dr. Jürgen Keimer diskutierten die Architekten Christian Schaller und Kai Büder, Werner Stüttem vom Amt für Stadtentwicklung und Statistik, die Sozialraumkoordinatorin Wilhelmine Streuter, Ali Demir von der IG Keupstraße sowie der Pfarrer der Friedenskirche, Klaus Müller.

40 Millionen Euro für das Veedel
Die letzte Buchhandlung Mülheims schloss vor drei Wochen ihre Tore, Gemeindemitglieder klagen über Drogensüchtige und Bettler am Wiener Platz, gleichzeitig sehen die Menschen das Positive: Der Stadtpark sieht wieder gepflegter aus, in den Medienunternehmen an der Schanzenstraße entstehen neue Arbeitsplätze. So sieht das Mülheimer Bild aus, das Pfarrer Klaus Müller in seinem Alltag erlebt. „Außerdem habe ich in den letzten Wochen drei Familien kennen gelernt, die ihre Kinder bei mir taufen lassen wollen. Sie sind alle aus dem Linksrheinischen nach Mülheim gezogen, weil sie hier eine größere Wohnung gefunden haben“, schloss Müller seine „Mülheimer Impressionen“.
„Licht und Schatten in Mülheim“ konstatierte auch Oberbürgermeister Jürgen Roters, der als Gast die Diskussion verfolgte, in seinem Grußwort. Eine „einmalige Chance, um die Porz oder Chorweiler Mülheim beneiden“, sei laut Roters das EU-Förderprogramm „Mülheim2020“. Dieses stellt immerhin 40 Millionen Euro für die Förderung von Bildung, Wirtschaft und Infrastruktur in den Stadtteilen Mülheim, Buchheim und Buchforst zur Verfügung. Dass sein schleppender Anlauf zur Zeit die Gemüter erhitzt, konnte er nicht außer Acht lassen: Er verwies auf die komplizierten EU-Ausschreibungsverfahren, schloss aber nicht aus, dass den 14 beteiligten städtischen Ämtern vielleicht der nötige Schwung gefehlt habe. „Das soll sich jetzt ändern“ versprach Roters, der dem Förderprogramm mehr Priorität in der Stadtverwaltung verschaffen will.

Bahnhofsbrache wartet auf Nutzung
Einen Einstieg in das zweite Thema, das die vom WDR-Mitarbeiter Dr. Jürgen Keimer moderierte Diskussion beherrschte, gab Architekt Kai Büder. Büder hatte 2002 einen Wettbewerb für die Neugestaltung des ehemaligen Güterbahnhofsgeländes zwischen Markgrafenstraße und Schanzenstraße gewonnen. Eine Mischnutzung aus Wohnen, Gewerbe und Kultur hatte Büder damals vorgestellt, aufgelockert durch eine große Grünfläche. „Umgesetzt wurde bisher nichts“ konstatierte er. Bei der aktuellen Planung, die den Umzug des Stahlhandels Drösser in den Norden des Gebiets vorsieht, befürchtet Büder eine Zunahme des LKW-Verkehrs durch das Wohngebiet. Ein weiteres Mülheimer Problem, auf das Büder hinwies, sind die Verkehrsachsen, die den Stadtteil zerschneiden: Durch den Clevischen Ring, die Mülheimer Brücke und Bahntrassen entstünden isolierte „Insellagen“ ohne Bezug zu den Nachbarsiedlungen.

Stadt soll in die Pflicht genommen werden
„Ich habe jetzt den Eindruck, dass hier manches auf der Stelle tritt“ kommentierte Keimer umgehend die Ausführungen Büders, der auf die Verantwortunge der Stadt Köln verwies: Ich sehe die Stadt in der Pflicht, mit den Investoren zu verhandeln statt abzuwarten, was der Markt mit sich bringt.“ Vertreten war die Stadt Köln durch Werner Stüttem vom Stadtplanungsamt, den Keimer aufforderte, Fakten zum Güterbahnhofsgelände vorzustellen: „Das Gelände wird geteilt“ teilte Stüttem daraufhin mit. In den nördlichen Teil soll der Stahlhandel Drösser umziehen, im Süden des Geländes ist eigentlich die ersehnte Mischnutzung von Wohnen und Gewerbe geplant, aber Stüttem sieht zur Zeit noch Konflikte mit den dort noch bestehenden Industriebetrieben NKT Cables und den Drahtwerken. „Die Stadt ist nicht Eigentümerin und muss vermitteln“.
Für einen energischeren Umgang mit den Investoren und Eigentümer, der Firma aurelis Real Estate GmbH & Co. KG, plädierte dagegen Christian Schaller, der ebenfalls als Architekt an der Podiumsdiskussion teilnahm: Instrumente wie die Vergabe von Bau- und Planungsrecht könne die Stadt durchaus nutzen, um den Investor zu lenken, so Schaller.

Deutsch-türkisches Geschäftshaus, Haus der Religionen oder Second-Hand-Baumarkt?
Schaller engagiert sich bei einer Bürgerinitiative, die im Sinne Büders ebenfalls eine Mischnutzung anstrebt: Ein deutsch-türkisches Geschäftshaus, ein „Haus der Religionen“ und ein Second-Hand-Baumarkt sind die Nutzungsvorschläge der Bürgerinitiative. Zu den Planern eines türkisch-deutschen Geschäftshauses gehört seit 1999 Ali Demir, Vorstand der IG Keupstraße. Von Keimer gefragt, ob er sich mit seinen Plänen willkommen fühlt, konnte er immerhin auf kürzlich geführte Gespräche mit dem Amt für Wirtschaftsförderung verweisen. Insgesamt sah Demir die Keupstraße am Scheideweg: „Wir können Touristenattraktion bleiben“. Die neue Generation an Geschäftsleuten der Keupstraße, so Demir, ist in Deutschland ausgebildet und strebt ein modernes Geschäftsviertel an.

„Menschen wollen sich engagieren“
Frustration durch das Blockieren von Bürgerinitiativen befürchtet Sozialraumkoordinatorin Wilhelmine Streuter: „Die Menschen wollen sich engagieren, aber stoßen bei Behörden und Investoren an ihre Grenzen“. Die „Verinselung“ innerhalb Mülheims, die bereits Kai Büder in seinem Einstiegsreferat beschrieben hatte, ist laut Streuter sogar stärker geworden: „In die Hacketäuersiedlung ziehen die „Sorgenkinder“. Gleichzeitig, so Streuter, bewohnen Wohlhabende die Neubauten am Rheinufer. Den billigen Wohnraum in den Altbauten im Mülheimer Norden nutzen „Zugezogene“, also Künstler und Studenten. „Die wollen sich engagieren, Menschen mit Problemen ziehen sich ins Privatleben zurück“. Ein Bürgertum, so Streuter, sei in Mülheim zwar noch vorhanden. Trotzdem zog sie nach fünfjähriger Arbeit als Sozialraumkoordinatorin keine zuversichtliche Bilanz und äußerte ihren Unmut über die Kommunikation mit der Stadt. Dabei äußerte auch sie ihren Unmut über den verzögerten Anlauf von Mülheim 2020: „Es ist seit 2008 bekannt, dass es das Programm gibt. Trotzdem gibt es noch keine einzige Ausschreibung. Die Verwaltung kann mir das als Bürgerin nicht so vermitteln, dass ich es verstehe“.

Veränderung fängt durch Bewusstsein an
Zornig, so Moderator Keimer, sollte eigentlich auch die Stadt sein: „Am Rheinufer und in der Keupstraße ist durch privates Geld Neues enstanden. Das Güterbahnhofsgelände, wo die Stadt etwas machen könnte, ist in privater Hand. Macht Sie das nicht wütend?“ gab Keimer die Frage an Stüttem weiter. Während Stüttem auf laufende Verhandlungen mit Aurelis verwies, plädierte Schaller erneut für einen selbstbwussteren Umgang mit Investoren. Eine rechte Aufbruchsstimmung kam während der Diskussion nicht auf: Stüttem musste sich weiteren Fragen stellen: Besucher äußerten ihren Unmut über fehlenden mittelständischen Wohnraum, auch der befürchtete LkW-Verkehr, den die Firma Drösser verursachen könnte, beschäftigte die Fragenden. „Veränderung beginnt da, wo Bewusstsein und Sensibilität geweckt werden“ bemühte sich Müller dennoch um einen versöhnlichen Abschluss, bevor Diskutierende und Besucher den Abend bei einem kleinen Umtrunk ausklingen ließen.

Die „Mülheimer Gespräche“ sind Teil der Veranstaltungsreihe „400 Jahre evangelisch in Mülheim“. Am Donnerstag, 18. November, geht es in der Friedenskirche, Wallstraße 70, um das Thema „Welche Schule ist die Richtige?“

Text: Annette v. Czarnowski
Foto(s): avc