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„Integrieren statt ignorieren“ – zum Beispiel Lena Simanjuntak-Mertes: Die Schönheit in der Vielfalt entdecken

Als ich am Freitagmorgen um 10 Uhr an der Tür zu Lena Simanjuntak-Mertes großer Altbauwohnung in Köln klingle, haben drei Studenten aus ihrer Heimat Indonesien, die seit ein paar Tagen bei ihr zu Gast sind, gerade das Haus verlassen. Mit lebhaften Gesten komplimentiert sie mich an den riesigen Küchentisch, an dem sie alle noch bis vor ein paar Minuten beim Frühstück zusammen gesessen haben. „Hier gehen so viele Leute raus und rein. Ich kenne sie manchmal selbst nicht. Ich sage erst mal herzlich willkommen, und dann lerne ich die Schönheit unserer Gäste kennen“, sagt sie.


Ist Deutschland voller Klischees?
Während sie Tee kocht, gibt sie mir sozusagen „vorbeugend“ einen Artikel zu lesen, in dem sie auf Fragen ein geht, die ihr in Deutschland immer wieder gestellt werden. Etwa die, ob sie von den Philippinen oder aus Thailand komme. Dahinter, so ihre Erfahrung, steckt oft das Klischee, dass sie als Asiatin doch wohl nur als Heiratsmigrantin oder Prostituierte nach Deutschland gekommen sein könne. Dass eine Frau wie sie, die im indonesischen Medan die Oberschule für Malerei und in Jakarta die Kunstakademie besucht hat, eine qualifizierte Ausbildung haben könnte, passt hierzulande offenbar nicht ins Bild von Ausländerinnen.
Manchmal, wenn die Frage nach ihrer Herkunft von einem erkennbar aufdringlichen Mann gestellt wird, macht sie sich einen Spaß daraus, mit einem Augenaufschlag zu antworten und den Betreffenden einfach stehen zu lassen. Schließlich hat sie zu Beginn ihres Deutschlandaufenthaltes eine durch die Goethe Institut geförderte Pantomimen Ausbildung bei Milan Sladek gemacht. Ernsthaften Fragestellern dagegen erklärt sie, dass sie aus Bandung/ West Java stammt und „aus Liebe zu meinem Mann“ seit 1985 in Deutschland lebt. 


Wie zeigt sich die Zugehörigkeit zu einer Religion?
Lena Simanjuntak (Jahrgang 57), sind ganz andere Themen wichtig als die ermüdende Litanei von „Wo kommen Sie her?“ und „Wann wollen Sie wieder zurück?“ Zum Beispiel das, weshalb sie ihre muslimische Gäste, gerade eben beim Gespräch am Frühstückstisch dazu ermutigt hat, keinesfalls ihr Gebet zu vernachlässigen . „Ich bin Christin, ihr seid Muslime, aber betet! Ihr gehört zum Islam, heute ist Freitag, euer Gebetstag“, hat sie ihnen gesagt und zugleich ganz unbefangen davon erzählt, wo die Bibel Jesus anders versteht als der Koran.
„Die Menschen müssen Gott haben. Das ist der wichtige Punkt. Denn mit Gott gibt es Schönheit“, erklärt sie lächelnd und mit Nachdruck. Mit Schönheit meint die studierte Theater Dramaturgin nicht die Schönheit, die sich beim Anblick ihrer großformatigen eigenen Gemälden im Flur entdecken lässt oder die Ästhetik einer ihrer Theateraufführungen. Schönheit, das hat für sie erster Linie mit ihrem Glauben zu tun. Wie und wo sie diese Schönheit erlebt? Zum Beispiel darin, keine Berührungsängste vor Menschen anderen Glaubens oder anderer sozialer Zugehörigkeit zu haben. Seien es nun die gottvergessenen Alltagsatheisten in ihrer neuen Heimat Deutschland, für die Gott „einfach Quatsch“ ist oder die Muslime aus ihrer alten Heimat Indonesien. Glaube, das ist für Lena Simanjuntak kein Haus, in dem sie sich zurückzieht, sondern geradezu eine Tür zu anderen. „Gott nimmt uns nicht gefangen . Er gibt Freiheit. Diese Freiheit ist die Schönheit und die möchte ich mit anderen teilen“, erklärt sie. Wer dabei das Leuchten in ihren dunklen Augen sieht, entdeckt darin etwas von jener Schönheit, von der Lena Simanjuntak so offensichtlich bewegt und bewohnt ist.


Hausfrau oder Theatermacherin?
Auch dass sie seit 1999 immer wieder Ehemann und die beiden Töchter in Köln zurücklässt („Manchmal glaube ich, ich bin verrückt, als Hausfrau hätte ich es doch viel bequemer“) und für drei Monate nach Surabaya in Ostjava/ Indonesien fährt, um dort mit Prostituierten Theater zu machen, hat für Lena Simanjuntak mit der Schönheit des Glaubens zu tun. Dabei sind die äußeren Bedingungen des mehrwöchigen Projektes , bei dem sie Sexworkerinnen befähigt, ihren Alltag, ihre Erfahrungen mit Gewalt und ihre sozialen Probleme mittels eines selbst entwickelten Schauspiels auf die Bühne und an die Öffentlichkeit zu bringen , alles andere als „schön“.


Theaterspielen gegen Gewalt, Krankheit und Alkoholprobleme?
Für die Dauer ihres Projektes, für das die erfahrende Regisseurin, von einer indonesischen Anti-Aids Initiative angefragt wurde und das vom Weltgebetestag und der Vereinten Evangelischen Mission unterstützt wird, wollte Lena Simanjuntak „so nah wie möglich“ bei den Frauen, wohnen. Dieses „so nah wie möglich“ entpuppte sich dann als ein schmutziges, dunkles, winziges Zimmer inmitten eines riesigen Bordellkomplex in Hafennähe. Kriminalität, Gewalt, Krankheit und Alkoholprobleme inklusive. Obwohl sie als Tochter eines Luftwaffenoffiziers, der an immer neue Einsatzorte kommandiert wurde, wahrhaftig schon viel gesehen hatte und zu wissen glaubte, was Schmutz ist, hätte sie in Surabaya beinahe kapituliert. „Am ersten Abend, als die Frauen mir ihr Elend erzählt haben, habe ich mir gesagt:‘. Das Elend dieser Frauen ist so tief. Was bringt da schon Theater? Morgen fahr‘ ich nach Hause „, erinnert sie sich.

Warum sie dennoch geblieben ist? „Auf einmal war in mir ein Wort, das hieß: ‚Wenn du hier bist, ist das kein Zufall'“, berichtet sie mit strahlenden Augen von der ihr unvermutet geschenkten Gewissheit, am richtigen Ort zu.

Schicksal oder Ergebnis sozialer Strukturen?
Lena Simanjuntak blieb und machte von morgens 10 bis 15 Uhr Theatertraining mit etwa zwanzig Frauen, die anschließend bis zum frühen Morgen ihrer Arbeit nachgehen mussten. Eröffnet wurden die Proben auf Wunsch der muslimischen Frauen mit Meditation und Gebet: „Wir sind doch keine Schauspielerinnen, wir müssen uns Kraft von Gott holen“, sagten sie. Vor der ersten Aufführung des Stückes, das die Frauen selbst entwickelten, verzichteten sie auf Essen und Trinken – und auf Kunden. „Mathahari & Matahari“ nannten sie ihr Stück. Ein Titel, der auf das indonesische Wort für Sonne hinweist und zugleich an die bekannte holländische Spionin gleichen Namens erinnert, die in Surabaya gelebt hat.
Doch nicht das positive Presseecho und die große öffentliche Aufmerksamkeit ist es, was in Lena Simanjuntaks Augen den Erfolg ausmacht. Was für sie zählt, ist nicht das Endprodukt, sondern der Weg dorthin. „Unterwegs“ haben die Frauen gelernt, ihre eigene Lebensgeschichte nicht als schuldhaftes Schicksal, und sich selbst nicht als „Sünderinnen“, sondern als Ergebnis sozialer Strukturen zu begreifen. Und so beginnen etliche nach Alternativen Ausschau zu halten.  Für Lena Simanjuntak Grund genug, wieder nach Surabaya zu gehen, um an ihrer „Theater-Mission“ weiterzuarbeiten. Von Jesus lerne ich, nah bei den Menschen zu sein, die sonst oft gemieden werden.“, sagt sie.

Es spielt keine Rolle: obdachlos in Köln oder Indonesien
Auch in Köln ist sie aktiv. Hier ist sie Mitglied einer Kirchengemeinde , arbeitet regelmäßig beim Weltgebtstag der Frauen mit – und war als erste Asiatin Vorstandsmitglied des Bürgerzentrums Alte Feuerwache. „Ich kann nicht allein nur für mich leben – Statt zu kritisieren, was in dieser Welt ist, mach ich lieber was. Und wenn es was kleines ist“, findet sie. Obwohl ganz bewusst keinen deutschen Pass hat, („wozu ?“ ) will sie als „Großmutter eines deutschen Enkelkindes“, Verantwortung übernehmen . Zum Beispiel, indem sie Kontakt zur Obdachlosenszene hält . In Köln will sie genau wie in Surabaya die verborgene Schönheit derer entdecken, die am Rand stehen.

Text: Karin Vorländer
Foto(s): Karin Vorländer