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„Das jüdische Köln. Geschichte und Gegenwart“ – Barbara Becker-Jákli

Vom Cover blicken uns Regina, Margot und Oskar an. Mit wachen Augen, eindringlich. Es handelt sich um drei der vier Kinder des jüdischen Ehepaares Pinkas und Mirel Emilie Fink. Die Aufnahme entstand etwa im Jahr 1935. Zwanzig Jahre zuvor war Pinkas Teilhaber der 1912 von seinem Bruder Joachim in der Kölner Dasselstraße gegründeten Buchdruckerei geworden. Unter anderem verlegten sie, mit Joachim Fink als Redaktionsmitglied, das Wochenblatt „Centralorgan für die Juden in Rheinland und Westfalen“. Ende der Zwanziger, Anfang der Dreißiger war das „die erfolgreichste jüdische Zeitung der Region“. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 musste sie eingestellt, der Betrieb geschlossen werden. Die drei auf dem Buchdeckel abgebildeten Geschwister haben das Regime überlebt. Ihre Eltern sowie der Bruder Max Adolf wurden ermordet.


Bundesweit einzigartig
Diese Familiengeschichte fasst nur eine der vielen detailreichen Schilderungen zusammen, die sich in einem neuen Kölner Stadtführer finden lassen: „Das jüdische Köln“ informiert auf 400 Seiten mit mehr als 800 Abbildungen über das Einst und Heute des jüdischen Lebens in Köln. Aspekte des wechselvollen jüdischen Lebens und Wirkens, Fakten und Zahlen insbesondere zur Historie der Ausgrenzung, Verfolgung, Vertreibung und Ermordung von Kölner Juden im Mittelalter und unter den Nazis haben Eingang in so manchen Stadtführer gefunden. Dagegen ist die nun vorliegende Darstellung, auch bundesweit, einzigartig. Denn die Autorin Barbara Becker-Jákli nimmt zentral das jüdische Köln in den Blick. Sehr anschaulich formulierend liefert sie eine eingehende Behandlung des Themas. Und verdeutlicht, wie untrennbar die jüdische Geschichte und Gegenwart Kölns mit „anderen Seiten“ der Stadt verbunden war beziehungsweise ist – und umgekehrt. „Wer sich also auf den Weg macht, das jüdische Köln und seine 1.700 Jahre umfassende Geschichte zu entdecken, wird zugleich eine Reihe anderer Seiten der Stadt kennen- oder auf neue Weise sehen lernen“, stellt die Historikerin voran. Und sie behält Recht. Das ist bereits auf dem ersten von sechs geleiteten Rundgängen nachvollziehbar, in dessen Verlauf man auch den Dom betritt. Dort weist die Historikerin auf zahlreiche „konkrete Bezüge“ zur jüdischen Bevölkerung und Gemeinde hin.

Erforscherin des evangelischen wie jüdischen Lebens in Köln
Seit fast 25 Jahren ist Becker-Jákli im NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln mit der lokalen/regionalen jüdischen Geschichte befasst. Ihren Doktorgrad an der Uni Köln erwarb die Historikerin, Jahrgang 1952, mit einer Arbeit über eine andere Minderheit: „Die Protestanten in Köln. Die Entwicklung einer religiösen Minderheit von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts.“ Der Titel wurde 1983 als Band 75 in die Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte aufgenommen. Der 1988 in derselben Schriftenreihe publizierte Band 91 stammt ebenfalls von Becker-Jákli: „‚Fürchtet Gott, ehret den König‘. Evangelisches Leben im linksrheinischen Köln 1850-1918.“ Im selben Jahr legte sie die Ergebnisse ihrer von der Stadt Brühl beauftragten Forschungen zu „Juden in Brühl“ vor. Seitdem ist die jüdische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert ihr Schwerpunkt.


Geschichts-, Lese- und Bilderbuch
„Ich wollte schon lange dieses Buch machen, aber immer ist etwas dazwischen gekommen“, spricht die ausgewiesene Kennerin der Materie von einer über viele Jahre anhaltenden Beschäftigung mit dieswem besonderen Köln-Führer. „Ich wollte erreichen, dass man ihn gerne zur Hand nimmt“, egal, ob man sich lediglich touristisch oder tiefgehender interessiere. So ist der handliche Band zugleich ein Geschichtsbuch, ein Lese- und Bilderbuch, das mit vielen erstmals veröffentlichten Informationen und schwarz-weißen wie farbigen Fotos aufwartet. Und dessen von Hans Schlimbach verantwortete Gestaltung hohen ästhetischen Ansprüchen genügt. Man kann sich im trauten Heim darin vertiefen oder die beschriebenen Touren vor Ort absolvieren. Beide Nutzungsvarianten werden trefflich bedient. Zentral bietet der Stadtführer, in dem Nicola Wenge das Kapitel „Juden im römischen und mittelalterlichen Köln“ verfasst hat, sechs Rundgänge. Der längste misst vier Kilometer. Angeboten werden die Touren „Vom Rathausplatz zu Dom und Ma’alot auf dem Heinrich-Böll-Platz“, „Von der Glockengasse zum Appellhofplatz“, „Vom Wallrafplatz zum Griechenmarktviertel“, „Rund um die Synagoge Roonstraße“ sowie Rundgänge durch Deutz und Ehrenfeld.


Biographien „kleiner Leute“
Sie fallen in der Regel nicht zu lang aus, weil auf den Strecken etliches anzusehen beziehungsweise zu erinnern ist. Häufig genug bleibt Becker-Jákli nur, eine Geschichte der „leeren Flecken“ oder veränderten Adressen zu erzählen. So führt „Das jüdische Köln“ oft zu dem nicht-mehr-Sichtbaren, an das mit Fotos und anderen Dokumenten erinnert wird. Sie machen bewusst, wie immens die Lücken und Verluste zum jüdischen Leben (auch) in Köln ausfallen. Ein großes Augenmerk liegt auf Lebensgeschichten, die Becker-Jákli in der Vermittlung von Geschichte als ungemein wichtig erachtet – und die auch in der Arbeit des NS-Dokumentationszentrums eine wesentliche Rolle spielen. So kommt ihr das Verdienst zu, nicht nur einstige Persönlichkeiten dem Vergessen zu entreißen, beispielsweise der in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Kultur prägenden Theaterkundler und Dramaturg Sascha Simchowitz. Es sind insbesondere die Biographien von „kleinen Leuten“, die ein umfassenderes Bild zeichnen.

Köln: „seit frühester Zeit mit jüdischem Leben verknüpft“
Vorgestellt wurde der Stadtführer im Wohlfahrtszentrum der Synagogen-Gemeinde Köln im Stadtteil Neuehrenfeld. Bei diesem „besonderen Anlass“ dankte Vorstandsmitglied Abraham Lehrer der „treuen Begleiterin unserer Gemeinde“ auch für die angehängte „komplette Übersicht“ über das, was das jüdische Leben in Köln heute ausmacht. Mit großem Respekt registrierte er, dass die Publikation „neben der normalen Arbeit von Frau Becker-Jákli“ entstanden sei. Jaron Engelmayer, Rabbiner der Synagogen-Gemeinde Köln, bezeichnete es als „eine jüdische Sache“, einen Stadtführer in den Händen zu halten: „Dass man immer den Weg finden kann – wisse, woher Du kommst und wohin Du gehst.“ Köln sei seit frühester Zeit mit jüdischem Leben verknüpft. Er begrüßte das Konzept der Autorin, nicht nur das (negative) Erbe zu beleuchten, sondern auch das gegenwärtig Positive zu würdigen. So könne der Stadtführer als „wegweisend für die Zukunft“ verstanden werden.

„Sorgfalt und Herzblut“ in jeder Zeile
Dr. Werner Jung, Direktor des NS-Dokumentationszentrums, nimmt Becker-Jáklis „Sorgfalt und Herzblut in jeder Zeile“ wahr. „Es ist ein Geschichtsbuch, das auch so zu lesen ist. Es greift ebenfalls das heutige jüdische Leben auf, schildert den Reichtum des jüdischen Lebens in Köln, seinen großen Anteil an der Stadtgesellschaft insgesamt.“ Trotzdem bleibe die Folie der Darstellung problematisch, wies Jung hin auf die mittelalterlichen Pogrome, die Vertreibung der Kölner Juden. Die Darstellung sei eingebettet in alle anderen Fragen, natürlich auch der existentiellen Bedrohung in der Zeit des Nationalsozialismus. Jung findet den Stadtführer „ausgesprochen gelungen“. Er hofft, dass das Buch mitschwingt im jüdischen Leben. Es sei insbesondere ein Auftrag an die Stadt und deren Bewohner, jüdisches Leben selbstverständlich zuzulassen. „Gewiss wird auch dieses Buch seinen Anteil daran haben, die Erinnerung an die jahrhunderte alte Geschichte der jüdischen Gemeinschaft in der Stadt zu erwecken und wach zu halten“, stellt Jung im Vorwort fest. „Das Schwierigste war: ich musste das Buch irgendwie begrenzen“, berichtete Becker-Jákli. Sie habe aus vielen Tausenden Geschichten auswählen müssen. „Die Fülle dessen, was in Köln jüdisch, mit dem Judentum verbunden ist, ist enorm.“ Vieles musste unberücksichtigt bleiben. Sehr bedauerlich finde sie, dass geplante Exkurse über das Landjudentum, etwa über eine Familie im rechtsrheinischen Stadtteil Poll, aus Platzgründen entfallen mussten. Selbstverständlich aufgenommen sind dagegen Informationen über die Kindergedenkstätte Löwenbrunnen sowie den Lern- und Gedenkort Jawne am Erich-Klibansky-Platz. „Es ist das Verdienst des Kölner Ehepaares Corbach, dass der Name Erich Klibansky und die Geschichte dieses Ortes im Zentrum Kölns – gegen die Unbeweglichkeit der Behörden, gegen das Desinteresse von Politik und Öffentlichkeit – wieder in das Bewusstsein der Stadt gerückt wurde. Irene und Dieter Corbach, Synodalbeauftragte im Evangelischen Kirchenkreis Köln-Rechtsrheinisch, gehörten zu den Ersten, die Mitte der 1980er Jahre mit der Spurensuche zur Kölner jüdischen Geschichte begannen“, schreibt die Autorin.

Das Buch
Barbara Becker-Jákli: Das jüdische Köln. Geschichte und Gegenwart. Ein Stadtführer (Mitarbeit: Nicola Wenge), 400 S. mit ca. 800 Abbildungen, Paperback, Emons Verlag (Köln), 16,85 Euro.

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Broich