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allerhand Alltagsgeschichten: Frommes Armdrücken

Dieter Schwirschke unterrichtet neben seinem Beruf als Pfarrer auch gehörlose Jungs im Alter von 12 bis 16 Jahren. Heute erzählt er von einem seiner vielen Erlebnisse aus seiner Klasse. Die Frage an seine Schüler gerichtet, wer denn der Stärkste sei, bringt interessante und tolle Einsichten und Erkenntnisse.

Hallo und herzlich Willkommen zu „allerhand Alltagsgeschichten“. Vielleicht wisst Ihr, dass ich ja Pfarrer bin. Aber ich bin auch zugleich Lehrer für gehörlose und schwerhörige Kinder. Ich unterrichte das Fach evangelische Religion an einer Schule in einer Klasse mit rund zehn Jungen. Alle sind gehörlos und zwischen 15 und 18 Jahren alt.

An einem Tag kam ich in den Unterricht und zu Beginn fragte ich, wer von euch ist eigentlich der Stärkste? Sofort gaben mir einige Jungen Bescheid: der da. Ich schaute und sagte: „Du bist also der Stärkste hier.“ Er sagte: „Ja.“ „Bitte dann schau doch mal, ich habe hier Papierzettel vorbereitet, insgesamt zehn Stapel und auf diesen zetteln steht eine zahl drauf. Hier die Zahl 10 dann 9, 8 und so weiter bis 1. Für dich suche ich ein Zettel aus auf dem die Zahl 10 steht. Du bekommst ihn, denn du bist besonders stark. Wenn du jetzt schwach bist, wirst du nur die 1 bekommen. Aber so eben die zehn. Und für euch, bitte ihr bekommt eine Aufgabe – überlegt doch mal: „Bin ich selber eigentlich auch stark oder eher schwach?“ Und wenn ihr meint, dass ihr stark seid, naja dann nehmt euch ein Zettel mit der 8, 9 oder 10. Und wenn ihr meint na ja geht so, dann eben 1, 2, 3. Habt ihr das verstanden? Dann, bitte los.“

Ich selber beobachtete die Jungen, was sie machten und einige waren am Überlegen. Klar, das braucht ein bisschen Zeit. Aber insgesamt haben es alle geschafft. Jeder hatte einen Zettel mit einer Zahl. Und so sagte ich: „Gut, ihr seid also der Meinung, so wäre das: richtig stark bis schwach. Aber ob das auch stimmt? Ob das auch wahr ist? Ich weiß das nicht. Deswegen brauche ich jetzt einen Beweis.“ Ich habe einen Tisch mit zwei Stühle genommen und gesagt: „Du bitte mit der 8 und du mit der 5, ihr beide kommt und setzt euch hin und dann wird Armgedrückt. Ich möchte sehen, ob du es schaffst zu gewinnen mit der 8 und alle können es dann sehen.“ Die Jungen lachten und hatten Spaß. Sie haben dieses Spiel gerne gemacht. Die beiden haben Armgedrückt und so weiter. Und vielleicht fragt ihr mich jetzt: „So ist Religionsunterricht? Armdrücken? Das passt doch eher zum Sportunterricht!“ Aber trotzdem bin ich der Meinung, ja das war Religionsunterricht: Armdrücken.

Ich meine diese Jungen haben sehr viel gelernt. Zunächst haben sie gelernt, über sich selbst nachzudenken: Was schaffe ich eigentlich? Was kann ich? – Wie in sich selber hineinzuschauen. Die Jungen haben gelernt. Zweitens: meine eigene Meinung über mich kann richtig sein, aber sie kann auch falsch sein und es ist möglich, dass ein anderer mich besser kennt als ich mich selber kenne. Und drittens haben sie auch gelernt, zu akzeptieren, wenn ein anderer besser ist. „Naja, ich kann das aushalten, dass er stärker ist als ich. Vielleicht bei einem anderen Spiel bin ich besser als er.“ Und viertens haben die Jungen auch gelernt, Respekt voreinander zu empfinden. Ich möchte ein Beispiel dazu sagen: ein Junge war dabei, 15 Jahre alt. Er hat sich die Zahl vier ausgesucht und ein Junge 17 Jahre alt mit der Zahl sieben. Beiden haben gegeneinander armgedrückt und was meint ihr, wer gewinnt? Die Zahl sieben hat gewonnen. Aber ich habe beobachtet wie der mit der 4 unglaubliche Kräfte aufgewandt hat. Ich konnte in seinen Augen sehen, dass er einen immensen starken Willen hatte. Er hat dann schließlich verloren, aber alle anderen Jungen waren überrascht und sagten: „Oh, wow, Respekt! Mensch, bist du stark, hast du einen starken Willen. Du hast das echt toll gemacht!“ Er hatte verloren, aber er lächelte und strahlte über das ganze Gesicht und war auch stolz auf sich. Und so war das für mich eine wunderbare Religionsstunde. Es war ein Armdrücken, aber für mich war es sozusagen ein „frommes Armdrücken“. Tschüss und bis zum nächsten Mal.

Text: APK
Foto(s): APK