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‚Poet in der Nähe Jesu‘ – Heinrich Böll, das Politische Nachtgebet in Köln und das Christentum

Man wolle „der kritischen und poetischen Spur, die Heinrich Böll gelegt hat, nachgehen“, begrüßte Dr. Martin Bock rund fünfzig Teilnehmende der Tagung „Poet in der Nähe Jesu“ in der evangelischen Melanchthon-Akademie (MAK). Der Akademieleiter freute sich auf ein „gemeinsames Hören und Sprechen in der Nähe Bölls“. Möglich geworden sei die Veranstaltung, weil sich ein paar Menschen zusammengetan hätten, die Böll direkt oder indirekt in der Zeitgenossenschaft kennengelernt hätten. MAK-Studienleiterin Dorothee Schaper stellte beglückt fest, dass man Linien von Bölls Leben und Werk ins Jetzt gezogen habe.

Vorträge, Lesungen und Gespräche
Die gut siebenstündige Veranstaltung in Erinnerung an den 1985 verstorbenen Kölner Nobelpreisträger für Literatur hatte zum äußeren Anlass dessen Geburtstag, der sich im Dezember zum 100. Mal jährt. „Poet in der Nähe zu Jesus“, so hatte ihn einst der Berliner Heinrich Albertz charakterisiert. Und so kamen in den erhellenden, bewegenden und lebhaften Vorträgen, in beeindruckenden Lesungen und anregenden Gesprächen immer wieder Bölls gesellschaftskritische Haltung, christlich-soziale Ethik, bedingungslose Humanität, politisches Engagement, tiefe Religiosität und Frömmigkeit zur Sprache.

„Schlecht sitzender Anzug, gut sitzender Kopf“
Mit persönlichen Erinnerungen an Böll setzte Prof. Peter Busmann ein. Den Namen Heinrich Böll hörte der Architekt erstmals 1955 während seines Studiums. „Seitdem war der Mann mir ein Begriff!“ Mitte der sechziger Jahre habe er ihn durch das Gürzenich-Foyer schlendern sehen. „Schlecht sitzender Anzug, gut sitzender Kopf“, notierte der Baumeister für sich. Busmann ging auf Briefe Bölls von der Kriegsfront ein, die auch seine humorige, schlitzohrige Seite offenbarten. Seine persönliche Beziehung zum Dichter sei eine indirekte gewesen – über gemeinsame Freundinnen und Freunde wie Marie Veit, Vilma Sturm, Egbert Höflich, Dorothee Sölle und Fulbert Steffensky. Mit diesen und weiteren engagierten Christen habe Böll 1968 den Ökumenischen Arbeitskreis Köln gebildet, der sich auch beim 82. Deutschen Katholikentag in Essen mit einem Politischen Nachtgebet beteiligt und dieses bald darauf in Köln fortgesetzt habe. Busmann gestand, wie Böll auf besondere Art und Weise an der Stadt Köln zu leiden. So habe ihn, den Architekten, der nicht einstimmige Beschluss zur Vergabe der Ehrenbürgerschaft an den Literaturnobelpreisträger sehr getroffen. Ebenso die endlos erscheinenden Diskussionen nach Bölls Tod 1985 über die Benennung einer Straße oder eines Platzes nach ihm in Köln.

Das Prinzip der Genauigkeit
Nach einer von Busmann eingeläuteten Runde, in der sich in Grüppchen über die jeweilige Sicht auf Böll und das Verhältnis zu ihm respektive seinem Werk ausgetauscht worden war, fassten einige Gesprochenes zusammen. Ein Teilnehmer hob hervor, dass Böll so detailliert schreibe, dass man sich leicht in die Umgebung einfinden könne. „Ja“, bestätigte Busmann, „Walser nennt es das Prinzip der Genauigkeit.“ Eine jüngere Besucherin stellte fest, durch Böll ein anderes Deutschland kennengelernt zu haben. Böll sei ihr auf Fragen nach Antworten auf das Leben begegnet, so eine in der DDR aufgewachsene Frau. Er sei so etwas wie ein Türöffner gewesen, habe sie auch 1983 nach ihrer Übersiedlung nach Köln weiter begleitet und in dieser Qualität nicht abgenommen. Ein Zeitgenosse lernte Böll als Kirchgänger kennen, und erlebte „tatsächlich“, wie er Kerzen aufgestellt hat. Böll sei angefeindet worden, erinnerte eine weitere Frau. „Man wollte ihn nicht begreifen.“ Sie findet es gut, dass er heute sehr verehrt wird.

„Die Pflicht des Schriftstellers liegt darin, das Gewissen aufzurütteln“
Klaus Schmidt nahm „Heinrich Bölls politisches und solidarisches Engagement“ in den Blick. 1961 habe „Der Spiegel“ Böll als „Gewissen der Nation“ bezeichnet, so der Theologe und Historiker. Aber wenn er gemerkt habe, dass man ihn vera… wolle, „konnte Böll sehr barsch werden“. Auf das „Spiegel“-Wort habe er mit einer gewissen Süffisanz reagiert: „Er glaubt, dass das Gewissen der Nation das ‚Parlament der Leute, ihr Gesetzbuch, ihre Gesetzgebung und ihre Rechtsprechung‘ sei. Die Pflicht des Schriftstellers läge darin, das Gewissen aufzurütteln, aber nicht zu verkörpern.“ Schmidt zählte nur wenige Erklärungen auf, denen sich Böll angeschlossen habe. Darunter der 1965 von über 200 namhaften Initiatoren formulierte Protest „gegen die von der Bundesregierung unterstützte völkerrechtswidrige Vietnampolitik der USA“. Tiefe Erfahrungen als Frontsoldat im 2. Weltkrieg hätten Böll geprägt und sein Gewissen politisiert. Ebenso erwähnte Schmidt die „Erklärung der 14“ vom 19. April 1968 zum „Mordanschlag auf Rudi Dutschke“.

Demo gegen Notstandsverfassung und -gesetze 1968
Böll sei auch unter den vielen Tausenden Demonstranten gewesen, die sich im Mai 1968 in Bonn gegen die geplante Verabschiedung der Notstandsverfassung und -gesetze gewandt hätten. „Als Person aufgrund meiner Erfahrungen mit verschiedenen Notständen der deutschen Geschichte bin ich der Überzeugung, dass Notstände – was hier bedeutet Krieg oder Bürgerkrieg – durch Gesetze nicht zu regeln sind“, zitierte Schmidt den damals prominentesten Redner Böll. „Das Bösartige an dieser Gesetzesvorlage ist außerdem, dass ihre letzte Fassung bis vor wenigen Tagen fast geheim gehalten und dass die Öffentlichkeit fast gar nicht informiert wurde. Das Gesetz erscheint den meisten Bürgern dieses Staates als eine Art Verkehrsregelung bei Naturkatastrophen, während es in Wahrheit fast alle Vollmachten für eine fast totale Mobilmachung enthält."

Politisches Nachtgebet
Schmidt, selbst im Politischen Nachtgebet engagiert, würdigte Böll als Mitinitiator dieses Angebotes, und ging auf dessen Entwicklung und Inhalte ein. Die Notwendigkeit eines solchen Gebetes habe Dorothee Sölle unter anderem so begründet: „Ein religiöses Gebet ohne politische Konsequenzen ist eine Heuchelei.“

Begeisterung für das Werk des Schriftstellers Léon Bloy
In seiner kraftvollen, anekdotenreichen Rede über Bölls Inkarnationstheologie beschrieb Prof. Volker Neuhaus den Schriftsteller und Menschen als einen in der Wolle gefärbten Katholiken. Dieser sei stolz gewesen, in einer streng katholischen Familie aufgewachsen zu sein. Der Böll‘sche Mensch sei zwar geschwächt, aber nicht total gefallen, erläuterte er dessen Sicht. Böll habe sich durch ein Bekehrungserlebnis zu einem lebendigen Katholiken gewandelt. Neuhaus, Prädikant der rheinischen Landeskirche und Literaturwissenschaftler, der vor seiner Emeritierung an der Uni Köln lehrte, sprach von der großen, prägenden Begeisterung Bölls für das Werk des Schriftstellers Léon Bloy (1846–1917). Ihn habe die Frömmigkeit des französischen Katholiken, dessen in Leid und Armut geführtes Leben inspiriert. So schrieb der Soldat Heinrich im August 1942 an seine Ehefrau Annemarie: „Mein Leben soll keinen anderen Sinn haben als für Christus, für das Kreuz zu leben und zu arbeiten.“ Er habe ganz bewusst in Armut gelebt, versucht jeden Anschein einer Großbürgerlichkeit zu vermeiden. Ihn und Günter Grass verbinde „eine panische Angst, Wohlstand zur Schau zu stellen“. Das Lob der Armut sei stilbildend gewesen, beschrieb Neuhaus Bölls unglaublich bescheidene Lebensführung.

Weitere Grundpfeiler für Bölls Religiosität
Die späteren Werke Bölls seien gerichtet gegen die Wohlstandsgesellschaft und Moderne, für ihn der Inbegriff aller Gottes- und damit Menschenferne. Neben der Léon Bloy machte Neuhaus weitere „Grundpfeiler“ für Bölls gelebte und in seine Schriften eingeflossene Religiosität fest. Dazu zählen der „Jansenismus seiner Großmutter“, eine auf den flämischen Bischof Cornelius Jansen (1585–1638) zurückgehende Lehre. Diese Abspaltung innerhalb der katholischen Kirche habe Schlichtheit der Ur- und frühen Kirche idealisierte, eine Ideologie- uns Staatsferne propagiert. Zu den Pfeilern zählt Neuhaus ebenso den „Kulturkampf seines Vaters“ und die lukanischen Schriften. „Er wusste, ein gottgefälliges Leben ist ein armes Leben“, antwortete Neuhaus auf die Frage einer Teilnehmerin nach der Haltung Bölls. Hinsichtlich seiner Kindheit und Jugend habe sich Böll, wie viele andere, selbst als proletarisch stilisiert. Dabei sei er in einer großbürgerlichen Familie aufgewachsen. Zum Protestantismus habe Böll überhaupt kein Verhältnis entwickelt. „Die geweihte Hostie ist heilig“, sagte Neuhaus beispielhaft über Bölls stark materialistische Frömmigkeit
Alt-Präses Manfred Kock zusammen mit dem Theologen und Historiker Klaus Schmidt
„Von Gott gegebene Aufgabe“
Der Protest gegen den Krieg, das Aufstehen für den Frieden habe sich durch Bölls literarisches Werk gezogen, sagte Altpräses Manfred Kock. Er habe dies, geprägt von seinen eigenen Kriegserfahrungen und -traumata, als ihm von Gott gegebene Aufgabe empfunden, sein Schreiben als absichtsvolle Kunst. In seinem Vortrag „Die Mühsal mit dem Frieden“ betonte der EKD-Ratsvorsitzende i. R., dass Bölls Mahnung unverändert aktuell sei. „Alles das, was Böll beschrieben hat, ist eine gegenwärtige Realität.“ Hier seien die Kriege zwar beendet, aber woanders würden sie fortgeführt. Was Böll zu erreichen versucht, angemahnt habe, sei nicht erledigt. Kock erinnerte unter anderem an Bölls Text „Die Stimme Wolfgang Borcherts“. Der damals 20-jährige Dichter war unter Hitler „als staatsgefährdend erkannt“ zum Tode verurteilt, später begnadigt worden, und starb 1947. „So empfindlich also sind die Staaten: Einer Nadel in eine Generalstabskarte gesteckt, das bedeutet zehntausend Menschenleben. Sie aber vertragen die Nadelstiche der Freiheit nicht, ihre Antwort ist Mord“, so zitiert der ehemalige Stadtsuperintendent von Köln Böll.

„Sie dürfen nicht ausweichen“
Aus seiner Zeit 1970 bis 1975 als Jugendpfarrer in Köln, „in diesem Hause“, erinnerte sich Kock an eine Tagung mit jungen Erwachsenen, die sich bei Aktion Sühnezeichen Friedensdienste engagierten, darunter ein Sohn von Böll. Damals sei die Frage aufgekommen, was die Aktion heute für Jugendliche bedeute. Sie seien doch viel zu jung, um Schuld auf sich geladen zu haben. Böll habe betont, dass sie natürlich keine persönliche Schuld an den Schrecken der Hitlerzeit hätten. Aber sie stünden in der Geschichte eines Volkes, das diese Last der Geschichte mitzutragen habe. Sie dürften nicht ausweichen. Angesichts der ungezählten, auch von Böll unterzeichneten nationalen und internationalen Aufrufe und Solidaritätsbekundungen meinte Kock, diese seien nicht vergeblich: „Wir brauchen solche Zeichen der Solidarität. Sie haben geholfen, dass Menschen frei gekommen sind.“ Sie hätten Politik verändert. Abschließend dankte der Altpräses „für das Erleben, das wir haben“, dass man gemeinsam den Kampf um Frieden und Gerechtigkeit fortsetze.

Beeindruckende Lesungen von Texten Bölls
Nicht nur die Referenten rezitierten Texte, Reden und (Kriegs)Erinnerungen von Böll und Dorothe Sölle. So boten Schauspielerin Vreneli Busmann, ihre Kollegen Günther Heitzmann und Friedhelm Weiß eine eindringliche Collage aus verschiedenartigen Texten des Schriftstellers. Sie lasen teils in Szene gesetzte weitere Texte von ihm und Sölle. Dabei ließ Musiker Ludger Schneider Klangcollagen folgen. „Köln gibt es schon, aber es ist ein Traum“, hatte Böll einst zwiespältig auf die Frage geantwortet, ob die Domstadt seine Heimat sei. Für eine „bodenlose Frechheit“ hielt er die Behauptung, Politik gehöre nicht in die Kirche. Gotteshäuser habe er gerne besucht, „wenn gerade kein Gottesdienst ist“, erfuhren die Zuhörenden. Und 1968 stellte Böll in Prag als Augenzeuge des Einmarschs von Truppen des Warschauer Paktes fest: „Im Ausnahmezustand gibt es keine Ausnahmen.“

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich