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„Zwischen Ökonomie und Menschlichkeit“

„Ich hatte Sorge, dass es eine Spezialisten-Unterhaltung wird. Dem war nicht so: Wir haben mit großer Menschlichkeit und Empathie miteinander gesprochen.“ Dr. Martin Bock, Leiter der Melanchthon-Akademie Köln (MAK), zeigte sich mit dem Verlauf des medizinethischen Symposiums zum Umgang mit Demenz sehr zufrieden.

Veranstaltet wurde es von der Stiftung Allgemeinmedizin in Kooperation mit der MAK im Haus der Evangelischen Kirche in der Kölner Südstadt. Unter dem Titel „Zwischen Ökonomie und Menschlichkeit“ hörten rund sechzig Teilnehmende Vorträge über Versorgungs- und Ethikaspekte im Umgang mit Demenz – und diskutierten rege mit.

Emotionen und Beziehungen bleiben
Dr. Michael Coors verdeutlichte in seinem Vortrag „Ein Körper ohne Geist? Theologische Reflexionen zu Demenz und ´Menschenbild´“, dass es problematisch sei, unser Menschenbild auf unser Denken und Wissen zu reduzieren. „Menschsein ist viel mehr als das, denn wir sind durch und durch leibliche Wesen“, stellte der theologische Referent im Zentrum für Gesundheitsethik an der Evangelischen Akademie Loccum mit Sitz in Hannover fest. Der Pastor bestritt vehement, dass durch das Verschwinden der geistigen Fähigkeiten die Betroffenen „ihren Status als Mensch verlieren“. Erhalten blieben mindestens die Emotionalität und Beziehung zu anderen Menschen. Daher sieht er die Beeinträchtigung der Denkleistung nicht als Verlust des Menschseins, sondern als eine Herausforderung.

Stark im Hier und Jetzt
Demenz sei nicht einfach ein Defizit, sondern eine Lebensherausforderung für unsere Gesellschaft, ordnete auch Altpräses Manfred Kock ein. Dabei sei der ökonomische Faktor, also „mehr Geld“, wohl nicht vorrangig. Kock moderierte in seiner Eigenschaft als Kuratoriumsmitglied der Stiftung Allgemeinmedizin die abschließende Podiumsdiskussion. Darin fragte er eingangs die drei Podiumsgäste nach dem von ihnen gewünschten Menschenbild. „Wenn wir beim Beklagen des Verlusts der Orientierung, Sprache und Wahrnehmung stehenbleiben, können wir nicht bemerken, was das Gefühl ausmacht. Bei den Betroffenen ist vieles noch präsent, aber eher im Gefühl als im Verstand“, unterstrich Helga Schneider-Schelte von der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e.V. in Berlin. „Wir Gesunden können schwer mit dem Krankheitsbild umgehen.“ Menschen mit Demenz fänden sich in der von uns definierten Wirklichkeit nicht zurecht. Zwar könnten sie bedeutsame Erlebnisse wachrufen. „Aber Demente leben viel stärker im Hier und Jetzt. Sie gehen damit so um, dass uns das häufig stört“, so die Diplom-Pädagogin, Unternehmensberaterin und Trainerin. „Es geht um Kontakt, um eine Begegnung der Wirklichkeiten.“

Der Begriff der Selbstbestimmung
„Wir brauchen ein Menschbild, das den Menschen mehr in den Mittelpunkt rückt“, betonte Jan Peren. Der Kölner Unternehmensberater meint, dass mit zunehmender Beziehungsgestaltung und durch einen guten Kontakt zwischen dem Erkrankten und seinem Umfeld die Demenz in den Hintergrund rücke. So werde der Begriff Selbstbestimmung mit Leben gefüllt. Aber dafür sei ausreichend geschultes und bezahltes Betreuungspersonal vonnöten. „Mein Bürgerbild ist das des beteiligten Bürgers“, sagte Professorin Sylvia Sänger von der SRH-Hochschule für Gesundheit in Gera. „Frei und selbstbestimmt“, so stehe es auch im Patientenrechtegesetz von 2013. „Mein Menschenbild ist Partizipation. Arzt und Patient treffen auf der Grundlage geteilter Information eine gemeinsame Entscheidung“, wünscht sie sich beide Seiten im Kontakt. Das klappe auch mit Demenzkranken. „Demenz-Patienten im Frühstadium haben ganz viel Luft nach oben“, weiß Sänger. Überdies solle man nicht nur von Beteiligung sprechen, „sondern einfach machen“.

Ordnungssinn bleibt erhalten
Weiter fragte Kock die Podiumsgäste nach ihren Erwartungen an die Pflegenden und Betreuenden. Sie sollten Empathie zeigen und auf die Welt der Demenzkranken eingehen, antwortete Peren. Deren Emotionen und sittlichen Antriebe, etwa der Ordnungssinn, blieben erhalten. Wenn man dies berücksichtige, verbessere sich das Wohlbefinden deutlich. „Menschen mit Demenz brauchen Menschen mit Kompetenz“, formulierte Peren. „Sie brauchen Menschen, die den Perspektivwechsel vornehmen können.“

Menschen nicht korrigieren
Das Zusammenleben falle leichter, wenn Demenz als Krankheit verstanden werde, so Kock. „Menschen mit Demenz brauchen für alles viel mehr Zeit. Sie brauchen jemanden, der sich auf ihre Welt einlässt.“ Der neugierig sei auf diese Welt. Angehörige benötigten Wissen, Schulung und Unterstützung. Die Überforderung in Familien liege auch daran, „dass wir in Deutschland zu wenig Gesundheitsbildung haben. Informationen sind da, kommen aber nicht an den Mann“, beklagte Sänger. „Wir sind als gesamte Gesellschaft gefragt, uns zu bilden – auch zum Nutzen des Systems.“ In der häuslichen Pflege sei es für Angehörige wichtig, dass sie Wissen hätten, bekräftigte Schneider-Schelte: „Wenn man beispielsweise einen dementen Mensch berichtigt, kostet das total viel Energie, es schont beider Nervensysteme, wenn man es nicht tut.“ Sänger und Schneider-Schelte wiesen darauf hin, dass es Materialien, auch in einfacher Sprache gebe, die Patienten, Angehörigen und überhaupt Interessierten zur Verfügung gestellt werde. Entsprechend informiert könnten Angehörige auch Dritten die Krankheit viel leichter erklären.

Viele gute Beispiele
Peren berichtete von guten Erfahrungen mit integrierten, demenzgerechten Betreuungskonzepten, auch mit Wohngemeinschaften und -gruppen. Für diese müsse das Pflegepersonal um Betreuende aufgestockt werden. „Menschen mit Demenz brauchen neben Sicherheit und Geborgenheit Bindung.“ Solche guten Beispiele müssten viel mehr publik gemacht werden, wünschte sich eine Teilnehmerin. „Ich erlebe noch nicht, dass es viele tolle Einrichtungen gibt“, zeigte sich eine andere skeptisch. In vielen „normalen“ Altenheimen würden Demente und Nichtdemente gemeinsam betreut.

Was muss geschehen?
„Was muss geschehen, damit Familien sich diese intensive Pflege leisten können?“, fragte Kock. „Man muss das auf wissenschaftliche Füße stellen und mit den Ergebnissen die Politik fordern“, erwiderte Sänger. Eine Besucherin kritisierte, dass wohl mehr Geld für die Forschung als die Versorgung Demenzkranker aufgewendet werde.

Auf die Heimleitung achten
„Demenz ist ein Phänomen, das jeden von uns treffen kann“, so Sänger. Sie sei ein Stück des Lebens. „Wenn Kommunikation nicht klappt, wird es häufig der Demenz zugeschrieben, nicht der Unfähigkeit damit umzugehen.“ Schneider-Schelte riet, bei der Wahl eines Pflegeheimes darauf zu achten, wer in der Heimleitung sitze: „Wenn dort die Pflege geachtet wird, bekommen wir eine bessere Qualität.“ Wo eher darauf geschaut werde, dass man damit verdiene, ändere sich gar nichts. Auch ein ständiger Personalwechsel diene nicht dem Wohl der zu Betreuenden.

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich