Gideon Greif ist promovierter Historiker sowie Pädagoge. Seit fast dreißig Jahren ist er Mitarbeiter in Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte und dem Holocaust-Museum in Jerusalem, und deren Seminarort Bet Wolin in Tel Aviv. Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Erforschung der Shoah, speziell der industriellen Massenvernichtung von Juden in Auschwitz-Birkenau. Wesentliche Aspekte bilden dabei die Darstellung jüdischer Schicksale und die Aufklärung über die Durchführung der „Endlösung der Judenfrage“. Zahlreiche seiner wissenschaftlichen und insbesondere pädagogischen Projekte führen ihn immer wieder ins Ausland – auch nach Deutschland: Bildungsarbeit, Seminare, Konferenzen, Vorträge, Diskussionen und anderes stehen hier auf dem Programm. Anlässlich des siebzigsten Jahrestages des Novemberpogroms 1938 weilte der israelische Historiker erneut im Rheinland. Im Rahmen einer mehrtägigen Vortragsreise besuchte er unter anderem das städtische Gymnasium Königin-Luise-Schule in Köln, das Geschwister-Scholl-Gymnasium in Pulheim sowie den Bezirk Stommeln der Evangelischen Kirchengemeinde Pulheim. Vermittelt wurden diese Termine von Pfarrer Dr. Martin Bock, dem Leiter der Melanchthon-Akademie.
Vor Kirchen steht keine Polizei
Dort, in der Melanchthon-Akademie, die Greif von Seminaren aus früheren Jahren kennt, nahm er sich Zeit für ein kurzes Gespräch. Sein Eindruck von den offenen Gesprächen mit Schülern des 13., beziehungsweise 12. Jahrgangs der oben genannten Gymnasien war noch ganz frisch. Rahmenthema in beiden Lehranstalten war der bevor stehende Jahrestag des vom nationalsozialistischen Regime gelenkten Novemberpogroms („Reichskristallnacht“): dessen Hintergründe, Ablauf und Folgen. „Wir haben aber auch allgemein über das Schicksal der Juden in Nazi-Deutschland, über den Holocaust gesprochen“, so Greif. Beide Geschichtsstunden seien wie immer ansprechend verlaufen. „Ich bin noch nie enttäuscht worden von deutschen Schülern. Sie kennen sich gut aus, sind empfindsam. Sie wollen zuhören. Da sehe ich keinen Unterschied zwischen Schülern hier und in anderen Ländern.“ Aus solchen Veranstaltungen nimmt Greif stets „positive Eindrücke“ mit: „Meistens sind die Schüler gut vorbereitet.“ Häufig werde auch die Gegenwart thematisiert, würden Fragen zum Judentum und zum Staat Israel, zur Situation jüdischer Mitbürger im heutigen Deutschland gestellt.
Aber auch er stellt Fragen an die Schüler. So machte Dr. Greif die Oberstufenschüler in Köln darauf aufmerksam, dass die Synagogen in Deutschland, anders als die Kirchen, unter Polizeibewachung stehen. „Was bedeutet das?“, fragte er die Klasse.
Erinnerungsarbeit
Wenn möglich, tritt Greif nicht alleine vor die Heranwachsenden, sondern gemeinsam mit einem/einer Überlebenden. „Sie sind in diesem Zusammenhang immer wichtiger als meine Person, sie sind unersetzbar.“ Unersetzbar für die persönliche Schilderung der Ereignisse, der Zustände in Nazi-Deutschland, in den Konzentrations- und Vernichtungslagern, auf der Flucht, im Versteck…
Der Erinnerungsarbeit der evangelischen Kirche, auch in Köln, zollt Greif ein großes Lob. „Sie ist bewundernswert. Es wird viel gemacht, obwohl man natürlich immer noch mehr machen könnte. Und man macht auch die richtigen Sachen.“ Bemerkenswert findet der 1951 in Tel Aviv geborene Historiker dabei nicht allein den oft hohen Anspruch der Angebote, sondern ebenso das hohe Niveau der Veranstaltungsbesuchenden.
“ Dabei ist es interessant, dass die evangelische Kirche sich mit praktischer Bildung beschäftigt, anders als die Rabbiner, die sich nicht direkt mit Bildung, sondern mehr mit Religion und Tradition beschäftigen.“
Es gibt noch immer viele Tabu-Themen
Auf seiner aktuellen Vortragsreise wird er auch über das „Bewusstsein der Shoah in der israelischen Gesellschaft 1945 bis 2008“ sprechen. „Dieses Thema ist teilweise ein schwieriges, war in Israel tabuisiert. Es hat eine lange Zeit der Entwicklung benötigt“, nennt Greif als allmählich das Tabu aufbrechende Marksteine den Eichmann-Prozess 1961, die beiden Kriege 1967 und 1973. Eine ganz wesentliche Rolle gesteht er, in diesem Zusammenhang, dem wachsenden zeitlichen Abstand zu: “ Wir haben heute eine fokussierte historische Perspektive“ , und bezieht sich dabei auch auf die Gründungszeit des Staates Israel, in der Aufbruchsstimmung herrschte und die Menschen mit so vielen existenziellen Problemen beschäftigt waren.
Ein anderes, lang tabuisiertes Thema ist das „Sonderkommando“ in Auschwitz. Die von der SS-Lagerleitung in dieses Kommando gezwungenen jüdischen Häftlinge hatten im größten Vernichtungslager der Nationalsozialisten die unfassbare Aufgabe, die „zum Tode verurteilten Juden in der Entkleidungshalle des Krematoriumsgebäudes zu empfangen, später ihre Leichen aus der Gaskammer zu holen, die Leichen zu verbrennen und schließlich ihre Asche in den Fluss Wistula zu streuen“. Lange schon forscht Greif zur Geschichte des „Sonderkommandos“. Innerhalb dieser Pionierarbeit konnte er auch Gespräche mit Überlebenden dieses Kommandos führen. Unter dem Titel „Wir weinten tränenlos…“ liegen diese Augenzeugenberichte seit 1995 auch in deutscher Sprache vor. „Das Thema ist längst noch nicht umfassend behandelt“, so Greif, „da mache ich weiter.“ Ebenso mit anderen Themen zu Auschwitz.
So ist, beispielsweise, eine Publikation über die Rettung von Häftlingen aus Auschwitz durch einen anderen Häftling, in Vorbereitung.
Auch der Weg der 1933 bis 1939 aus Deutschland nach Palästina ausgewanderten Jüdinnen und Juden war nicht einfach
Eine frühere Publikation von Greif, „Die Jeckes“, 2000 in deutscher Übersetzung erschienen, war jetzt Gegenstand der Veranstaltung in der evangelischen Kreuzkirche in Pulheim-Stommeln. Sie fand, in Kooperation mit der Melanchthon-Akademie, statt. Zahlreiche Gäste verfolgten die Ausführungen des Historikers über das Schicksal der von 1933 bis 1939 aus Nazi-Deutschland vertriebenen und nach Palästina ausgewanderten Juden, genannt „Jeckes“. Dr. Greif berichtete, in diesem Vortrag, über das Leben der „Jeckes“ in einer völlig anderen Umgebung, einer „eher orientalisch geprägten Welt“ und auch über die Veränderungen, die sie auf den jungen Staat Israel ausübten.
Foto(s): Broich