„Wir erinnern heute an das, was am 9./10. November 1938 hier in Köln und an vielen anderen Orten in Deutschland passiert ist“, begrüßte Dr. Rainer Lemaire an der Kindergedenkstätte Löwenbrunnen zur jährlichen Gedenkstunde. Erinnert wurde an die Pogrome gegen jüdische Menschen sowie an die deportierten und ermordeten beziehungsweise geretteten jüdischen Kinder und Jugendlichen aus Köln und Umgebung. Lemaire, Mitglied des veranstaltenden Arbeitskreises „Lern- und Gedenkort Jawne“, deutete die sehr große Gruppe anwesender junger und älterer Menschen als „Mut machendes Zeichen“. Er betonte den „ganz besonders wichtigen“ Brückenschlag zur Synagogen-Gemeinde Köln. Und begrüßte mit Judith Mekler die Nichte der gebürtigen Kölner Jüdin Charlotte Weissberg, die an der Königin-Luise-Schule (KLS) 1927 ihr Abitur abgelegt und danach das Israelitische Lehrerseminar an der St. Apern-Straße besucht hatte.
Auch Bürgermeister Dr. Ralph Elster (CDU) imponierte die großen Schülerzahl. Sein ausführliches Grußwort eröffnete der Ratsherr mit der Feststellung, dass von der „Reichspogromnacht“ eine „Welle von unbändigem Hass, mutwilliger Zerstörung und willkürlicher Gewalt gegen unschuldige Menschen ausgegangen“ und über ganz Deutschland hinweg gerollt sei. Den von den Nazis geprägte Begriff „Reichskristallnacht“ entlarvte er als „eine Schönzeichnung der schlimmen Gräueltaten, die in diesen Stunden fast überall in Deutschland an jüdischen Mitmenschen begangen wurden“. Dabei habe es sich „um ein kollektives Versagen von Gemeinschaft und Staat“ gehandelt – „um ein flächendeckendes Verbrechen gegen die Menschheit und gegen alle Ideale, für die wir heute stehen“. Elster, der Grüße des Rates und der Oberbürgermeisterin Henriette Reker übermittelte, ging unter anderem ein auf die von Dr. Erich Klibansky initiierte Rettungsaktion innerhalb der „Kindertransporte“. Damit sei es dem letzten Direktor des jüdischen Gymnasium Jawne 1939 gelungen, 130 seiner Schülerinnen und Schüler vor der weiteren Verfolgung nach Großbritannien in Sicherheit zu bringen.
Eintreten für Gerechtigkeit, Toleranz und Menschlichkeit
Den anwesenden Schülerinnen und Schülern dankte er, dass sie sich mit dem schwierigen Thema befassten und dass ihnen „das Wissen um dieses düstere Kapitel unserer Vergangenheit wichtig“ sei: „Ihr gebt damit ein wirkungsvolles Zeichen in unsere Stadtgesellschaft hinein.“ Mittels Gedenken und der Aufarbeitung der Geschehnisse werde von vielen Menschen ein wichtiger Beitrag geleistet, „dass sich ein solcher Wahnsinn niemals wiederholt“. Als eine der zentralen Grundlagen für eine gemeinsame Zukunft sieht er „eine gemeinsame Erinnerungskultur der Menschen in unserem Land“. Elster plädierte, dass das damals „kollektive Wegsehen, dieses Übersehen und Verdrängen allgegenwärtiger Gewalt gegen unschuldige Mitmenschen“ uns eine Lehre sein müsse. Dass es uns zeige, „dass man mutig und hilfsbereit sein muss, wenn andere ungerecht behandelt werden“. Dies gelte auch und gerade wieder angesichts der aktuellen weltpolitischen Entwicklungen und „der zunehmend wieder offen agierenden rechtsradikalen und auch antisemitischen Strömungen“ hierzulande. Elster wünschte „uns allen, aber gerade auch Euch jungen Menschen in den anstehenden Zeiten immer genügend Mut und Kraft, in unserer Gesellschaft für Gerechtigkeit und Toleranz und für Menschlichkeit einzutreten“.
Besuchende des Schiller-Gymnasiums, der Erzbischöflichen Liebfrauenschule und der Königin-Luise-Schule in Köln steuerten in diesem Jahr die stets in die Gedenkstunden am Löwenbrunnen eingebetteten Beiträge von Schülerinnen und Schülern bei. Aus dem 9. Jahrgang des Schiller-Gymnasiums trugen vier Gruppen Ergebnisse des zuvor im Galerieraum des Lern- und Gedenkortes absolvierten Workshops vor. Sie gingen ein auf die Biographien etwa der geretteten Jawne-Schüler und Schülerinnen Henny Franks, die heute mit 99 Jahren in London lebt, Manfred Simon und Henry Gruen (Heinz Grünebaum). Oberstufen-Schülerinnen und Schüler der Liebfrauenschule präsentierten Stellungnahmen und Fragen zu den Themen Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus und Erinnerungskultur.
Schüler und Schülerinnen: Die Welt zu einem offenen, friedlichen Ort machen
Es sei „wichtig, dass man in der Schule an die Verantwortung erinnert wird“, sagten sie. Und die Aufarbeitung des NS sei ausschlaggebend. Aber wie könne man das Thema nahe bringen, ohne dass die Jugend das Interesse verliere. Enorm wichtig sei die Vermittlung der Inhalte an die jeweils nächste Generation. Doch werde das Thema außerhalb des Geschichtsunterrichts häufig ignoriert, gaben die beiden Gymnasiasten stellvertretend für ihre Gruppe zu bedenken. „Wie ist es zu schaffen, dass wir in der Zukunft niemals Zeugen eines solchen Grauens werden?“, schlossen sie eine weitere Frage an. Wir müssten gemeinsam daran arbeiten, die Welt zu einem offenen, friedlichen Ort zu machen, lautete ihre Antwort. Dieser ließen sie eine weitere – rhetorische – Frage folgen: „Reicht die gemeinsame Arbeit aus oder muss mehr passieren?“
Schließlich informierten drei Oberstufen-Schülerinnen der Königin-Luise-Schule (KLS) nicht nur über das Leben und schreckliche Schicksal der früheren KLS-Schülerin Charlotte Weissberg, die 1939 nach Polen ausgewiesen und später ins Warschauer Ghetto deportiert wurde. Dort kamen auch sie und ihr Mann Leo Gabel ums Leben. Das Trio ging zweitens auf das langjährige Projekt an ihrer Schule ein, Biografien ehemaliger jüdischer KLS-Schülerinnen und Schüler zu erforschen. Die intensive Auseinandersetzung mit den vielen Schicksalen berühre jede(n) von uns, sagte eine Rednerin. Man fühle sich verpflichtet, die Erinnerung an die Ermordeten beziehungsweise Geretteten zu bewahren, um den Opfern ein Gesicht und einen Namen zu geben.
Erinnerung an die unfassbaren und erschreckenden Vorgänge in der Pogromnacht
Lemaire, beruflich tätig als evangelischer Schulreferent, dankte den Schülerinnen und Schülern sehr für ihr Engagement, die Qualität ihrer Beiträge und aufzunehmenden Anregungen. Er betonte, dass die Arbeit mit Biografien im Zentrum der Arbeit des „Lern- und Gedenkortes Jawne“ stehe. Beispielgebend spielte er eine fünfminütige Audio-Sequenz des Mitschnitts des Interviews mit dem 1939 in die USA geflohenen und noch heute dort lebenden Manfred Simon ein. In dem Tondokument erinnerte der ehemalige Jawne-Schüler in englischer Sprache die auch für ihn unfassbaren, erschreckenden und angsterfüllten Vorgänge in der Pogromnacht beziehungsweise am folgenden Morgen.
Beeindruckt von den Beiträgen zur Erinnerungsarbeit und der reflektierten Herangehensweise der Schülerinnen und Schüller zeigte sich auch Israel Meller. Er habe eine Gedenkstunde erwartet, in der wie vielerorts gesagt werde, was man tun solle oder tun könne für das Wachhalten der Erinnerung an die Shoa und gegen Antisemitismus, leitete der Vertreter der Synagogen-Gemeinde Köln seine prägnante Ansprache ein. Aber „hier heute habe ich eine ganz andere Gedenkstunde kennengelernt“. Nämlich „eine Gedenkstunde, in der Menschen, Personen gedacht worden ist. Menschen, die Euch heutzutage, dadurch dass ihr Euch mit dem Thema beschäftigt habt, hoffentlich etwas bedeuten“.
Diese Gedenkstunde sei auch deswegen besonders, weil „Ihr nicht nur eine Aussage gemacht habt, dass so etwas nicht wieder passieren darf, sondern dass ihr auch dabei helfen werdet, dass so etwas nicht mehr passieren darf“, würdigte Meller. „Dafür möchte ich Euch von ganzem Herzen danken“, richtete er sich an die Jugendlichen. „Und ich wünsche mir für die Zukunft, dass es so bleiben wird.“ Die Veranstaltung schloss mit ergreifenden Gebets-Vorträgen von Mordechai Tauber. Der Kantor der Synagogen-Gemeinde Köln trug Psalm 110 und El Male Rachamim (Gott voller Erbarmen) in der erweiterten Version für die Opfer der Shoa vor.
Gedenkstätte Löwenbrunnen
Mit der von Dieter und Irene Corbach initiierten Gedenkstätte Löwenbrunnen auf dem Erich-Klibansky-Platz an der Helenenstraße wird namentlich der über 1.100 deportierten und ermordeten jüdischen Kinder und Jugendlichen aus Köln und Umgebung gedacht. Der achteckige Brunnen steht in unmittelbarer Nähe zum ehemaligen Areal des einstigen jüdischen Reform-Realgymnasium Jawne und der Synagoge der orthodoxen Gemeinde in Köln. Dort befand sich ein Zentrum jüdischen Lebens und Lernens.
Foto(s): Engelbert Broich