Zukunftsinitiative „glaubensreich“ mündet in den „Tag der Inspiration“

Die Zukunftsinitiative "glaubensreich" mündet in den "Tag der Inspiration". Dieser Tag gibt geistliche, kritische und praktische Anstöße, die Flamme des Glaubens neu zu entfachen und die Kirche zukunftsträchtig zu machen, wie Landespfarrer Christoph Nötzel, Moderator der "glaubensreich"-Initiative, im ekir.de-Interview erklärt.

EKIR: Lassen Sie uns über die Kirche der Zukunft reden, das große "glaubensreich"-Thema. Inwiefern wird Kirche individueller?

Christoph Nötzel (C.N.): In den vergangenen fünf Jahrzehnten hat ein großer Prozess der religiösen Emanzipation stattgefunden. Das „Ich“ ist zum Subjekt seines Glaubens geworden. Der Glaube gehört nicht mehr den Kirchen. „Credo – ich glaube“, so heißt es jetzt. Und die Betonung liegt auf dem „ich“.
Die Menschen fragen: Was ist für mich wahr? Was trägt mich? Was schenkt meinem Leben Halt und Orientierung? Wo finde ich Trost? Sie schauen da und dort, sie hören dies und das – und sie schauen auch auf die Kirchen. Ihnen werden sehr unterschiedliche Wege angeboten. Aber sie haben die Wahl. Ihnen ist die Freiheit zugemutet, sich auch religiös selbst zu orientieren und … sich zu entscheiden. Abfällig wird dabei oft von „Patchwork-Religiosität“ gesprochen. Aber wie sonst soll sich Glauben denn heute ausbilden, als indem „ich“ aufgrund meiner Erfahrungen und mit meinen Worten „meinen Glauben“ entwickle und formuliere? Glauben nach Vorschrift gibt es nicht mehr. Glauben gehört in den sehr persönlichen Bereich meiner Identität und Integrität. Glauben gehört zu den Grundgütern meiner Würde und Freiheit. Eine solche Haltung kann und darf sich guten Gewissens auf den jungen Reformator Martin Luther berufen.

EKIR: Und inwiefern wird Kirche vielfältiger?

C.N.: Eben weil die Menschen individualistischer geworden sind und unsere Gesellschaft bunter. Eine Kultur für alle gibt es nicht mehr. Was den einen anzieht, das stößt den anderen ab. Musik zum Beispiel mögen alle – aber der eine besucht eine TechnoParty, andere den Musikantenstadl und dritte die Philharmonie. Jeder gehört einem Milieu an; niemand kann aus seinem Milieu einfach heraus; und keiner ist für alle Milieus offen. Und die Vielfalt der Lebensformen, der kulturellen Sprachen und Milieus nimmt stetig zu! Die große Frage ist: Schenkt die Kirche Raum für vielfältige Lebens-, Ausdrucks- und Gestaltformen des Glaubens?

EKIR:Schenkt sie?

C.N.: Um vielfältige Lebens-, Ausdrucks- und Gestaltformen des Glaubens zu fördern, sollte die Kirche nicht bleiben wie sie heute ist, sondern sich verändern. Weil sich die Menschen und die Wirklichkeit verändern. Veränderung braucht Mut und Hoffnung. Den Mut, sich auf Fremdes und Neues einzulassen – ohne zu wissen, was am Ende dabei herauskommt. Und die Hoffnung des Glaubens. Denn ob ich mich aus Angst zurückziehe oder ob ich mich mutig aufmache, ist zuallererst eine Frage meines eigenen Selbstbewusstseins und meiner persönlichen Haltung – und nicht der äußeren Umstände und Konzepte. Das gilt für uns als Einzelne, aber auch für uns miteinander als Gruppen, Gemeinden oder Kirchen. Die entscheidende Frage ist deshalb: Was bestimmt unseren Blick auf das Leben und die Wirklichkeit. Wie schauen wir auf die Zukunft der Kirche? Welche Bilder, welche Blickwinkel sind beherrschend?

EKIR: Warum keine Rückbesinnung auf bewährte Wurzeln?

C.N.: Manche denken das. Eine Haltung sagt: „Weiter so! Same procedure as every year.“ Wie bei Miss Sophies 90. Geburtstag. Auch wenn wir am Ende nur noch zu zweit sind. Auch das soll ja Verheißung haben. Manch gemeindliche Praxis scheint mir die ewige Wiederholung des ewig Gleichen zu sein.
Eine andere Perspektive ist von Nostalgie bestimmt: Ach, wie geht’s der Kirche schlecht. Früher war doch alles besser. Deshalb: Auf und zurück. Zurück nach gestern. Das Gestern wird zum Maß für das Heute, und daraus resultiert eine gigantische Überforderung. Denn was gestern für die Kirche unter ganz anderen gesellschaftlichen Umständen möglich war, klappt heute schon nicht mehr und geht morgen erst recht nicht mehr. Gestern war Kirche noch annähernd selbstverständlich. Für morgen gilt: Eine Kirche, die es gibt, weil es sie eben gibt, die gibt’s nicht mehr. Was gestern gut und richtig war, das kann deshalb morgen falsch und schlecht sein … und löst so nur Stress, Überforderung und Enttäuschung aus.

Welchen Weg sehen Sie?

C.N.: Wir müssen, denke ich, eine dritte Perspektive einnehmen und die Brille der Verheißung aufsetzen. Wir müssen Kirche verheißungsorientiert wahrnehmen. Raus aus unseren Denk-Schachteln und hinein ins Leben springen. Bei Jesaja 43, 18 heißt es: „Denkt nicht mehr an das Vergangene und achtet nicht auf das Vorige. Denn seht: Ich schaffe ein Neues, jetzt sprosst es auf! Merkt ihr es denn nicht?“ Der Status quo ist nicht Gesetz! Das ist das „Glaubensreiche“ an glaubensreich. Es kommt darauf an, dass wir uns mit Mut und Hoffnung den Fragen und Herausforderungen von heute stellen. Dann ist die Situation der Kirche zukunftsträchtig.

EKIR: Inwiefern wird der „Tag der Inspiration“ ein Sprungbrett ins Reformationsjubiläum sein?

C.N.: Reformationsjubiläum feiern, kann nicht heißen, sich selbstzufrieden zurückzulehnen und in Erinnerungen zu schwelgen. Es gilt, die Flamme des Glaubens neu zu entfachen und Kirche für die Menschen von heute einladend und relevant neu zu gestalten. Martin Luther und Johannes Calvin, Philipp Melanchthon oder Ulrich Zwingli können uns darin Mut machen und Vorbild sein. Die Kraft, die sie erlöste und bewegte, ist dieselbe, die auch uns befreit: Gottes Geist durch Jesus Christus. Wenn das Reformationsjahr Mut zum Aufbruch gibt, befreit und vergnügt Kirche bei den Menschen von heute zu sein, dann feiern wir so das Anliegen der Reformatoren. Der „Tag der Inspiration“ gibt dazu Anstöße: geistliche, kritische und ganz pragmatische. Und er wird hoffentlich etwas von der Freude vermitteln, miteinander Kirche zu sein.

Wen möchten Sie einmal ganz besonders nach Köln einladen?

C.N.: Ich würde mich freuen, wenn viele junge Menschen den Weg nach Köln finden, denen Glauben und Gemeinschaft im Glauben wichtig sind und die Gemeinde weiter denken wollen.

Eingeladen sind alle: Am 29. Oktober, also quasi am Vorabend des diesjährigen Reformationsfestes, findet in Köln der "Tag der Inspiration" statt. Informationen unter glaubensreich.de, der Website zur Zukunftsinitiative "glaubensreich", die im "Tag der Inspiration" gipfelt.

Text: Anna Neumann/ekir
Foto(s): Anna Siggelkow