You are currently viewing „Wieder legt sich Ruhe über das Meer des Sterbens“

„Wieder legt sich Ruhe über das Meer des Sterbens“

Dieser Mann hat einiges erlebt. Und er lässt keinen Zweifel an seiner persönlichen Betroffenheit. Aber auch nicht an seiner Bereitschaft, den Kampf um Menschenleben immer wieder aufs Neue aufzunehmen. Reinhard Schmitz, ehemaliger Kapitän bei „Sea-Watch“, war in die Trinitatiskirche gekommen, um über die Arbeit der gemeinnützigen Initiative zu berichten, die sich der zivilen Seenotrettung von Flüchtenden vor allem vor der libyschen Mittelmeerküste verschrieben hat.

Schmitz hielt das Impulsreferat bei der Auftaktveranstaltung zur sechsteiligen Reihe mit dem Titel „Offene Gesellschaft – Wie wollen wir in Verschiedenheit zusammenleben?“ Die Trinitatiskirche sollte an diesem Tag Gedenkort für die Ertrunkenen sein und gleichzeitig Raum bieten für Diskussionen über Rettungsmöglichkeiten für Geflüchtete auf hoher See im Mittelmeer. „Ich bin 15 Jahre lang über viele Meere gesegelt und nutze meine Kenntnisse nun, um im wahrsten Sinne des Wortes Menschen aus dem Wasser zu fischen“, erklärte Schmitz zu Beginn. „Ich bin selbst einmal in Seenot geraten und weiß, wie sich das anfühlt.“ Schmidt nannte die Zahlen: „2015 sind 1.600 Flüchtende im Mittelmeer umgekommen, 2016 waren es 4.800 und 2017 weit mehr als 5.000.“

Die Route über Libyen sei „brandaktuell“, weil alle anderen Routen mittlerweile nicht mehr passierbar seien. Schmidt nannte als Beispiel den „Deal“ der EU mit der Türkei. Neu sei, dass Flüchtende versuchten, aus West-Afrika auf die spanischen Kanaren zu gelangen. „Das ist aber schwierig, weil man dafür wirklich hochseetaugliche Schiffe braucht.“ Die bekommen die Flüchtenden von den libyschen Schleusern natürlich nicht zur Verfügung gestellt. Im Gegenteil. „Das sind chinesische Schlauchboote allerschlechtester Qualität“, berichtete Schmidt: „Deren Außenhaut kann man mit einem spitzen Fingernagel aufritzen.“ Der Kapitän hat Schlauchboote gesehen, auf denen auf einer Fläche von acht mal 1,8 Metern 160 Leute fuhren. Das entspricht einer Größe von knapp vier Tischtennisplatten. Schmidt war fassungslos: „Die Gewinne der Schleuser sind nach oben anscheinend immer noch steigerungsfähig.“

Mit Außenbordern werden die Boote außerhalb von libyschen Hoheitsgewässern gezogen. Dort schrauben die Schlepper die Außenborder ab und den Flüchtenden bleibt nichts als die Hoffnung, von einem Sea-Watch-Schiff oder einem Boot von anderen Hilfsorganisationen aufgenommen und gerettet zu werden. „80 Prozent der Flüchtenden aus Afrika können nicht schwimmen. Die haben vorher noch nie ein Meer gesehen“, berichtete Schmidt.

„Wir haben unsere Basis im Hafen von La Valetta auf Malta. Von dort sind es 180 Seemeilen bis zu den libyschen Hoheitsgewässern. Auf unseren Schiffen fahren pro Schiff 15 Freiwillige aus vielen Ländern. Sie arbeiten dort 14 Tage am Stück und opfern dafür auch ihren Urlaub. Alle Flüge nach Malta bezahlen sie aus eigener Tasche“, fuhr Schmidt fort. Wichtiger als der Kapitän seien die Maschinisten. „Wenn man mit einem Motorschaden in syrisches Hoheitsgewässer getrieben würde, wäre das ein Alptraum“, sagte der Kapitän. Die selbst ernannte libysche Küstenwache, nach seinen Aussagen mit 200 Millionen Euro von Deutschland unterstützt, ginge äußerst brutal vor. „Viele Flüchtende, die sie aufgreift, lässt sei ertrinken. Andere nimmt sie mit zurück zur Küste, versklavt oder foltert sie, um Geld zu erpressen“, so Schmidt. Wenn auf dem Mittelmeer die Sonne untergeht, schreibt der Kapitän Tagebuch. Ein Eintrag lautet: „Wieder legt sich Ruhe über das Meer des Sterbens. Zu sehen ist ein wunderschönes Mondlicht. Das Grablicht für alle, die es nicht geschafft haben.“

Die Beklemmung, die der Vortrag von Schmitz hinterlassen hatte, war auch bei der anschließenden Gesprächsrunde mit Dr. Torsten Moritz, Exekutivsekretär der Churches' Commission for Migrants in Europe (CCME), der kirchlichen Lobby-Organisation bei der Europäischen Union in Brüssel, und Pfarrer Rafael Nikodemus, Kirchenrat der Evangelischen Kirche im Rheinland, mit Händen greifbar. „Unsere Themen sind zurzeit nicht besonders beliebt. Vor allem, wenn es um die Menschenwürde und die Geflüchteten geht“, erklärte Moritz. Viele EU-Staaten wollten so wenige Flüchtlinge aufnehmen wie möglich. Und um Streit untereinander zu vermeiden, lasse man jegliche Offenheit bei dem Thema vermissen. „Migration zu stoppen, funktioniert nicht“, sagte Moritz. Aber: „Viele in Brüssel wollen sich im Moment nicht mit Kirchenvertretern treffen. Manche auch, weil sie sich für die Haltungen ihrer Regierungen in den Flüchtlingsfrage schämen.“

Moritz wies darauf hin, dass zwar 13 Prozent der Wähler in Deutschland die AfD gewählt hätten, „aber 87 Prozent eben auch nicht“. Es mache Mut für die oft schwierige Arbeit in den europäischen Gremien, Zuspruch aus den Ortsgemeinden zu erhalten. Denn: „Die Leute in den kleinen Gemeinden vor Ort machen Integration.“ Die Menschen aus dem Mittelmeerraum sollten nach Europa kommen können, so Moritz. Aber: „Die Kirche braucht dafür gerade gute Argumente.“ Rafael Nikodemus wies darauf hin, dass die Rheinische Landessynode in jedem Jahr einen Bericht über die Situation von Flüchtlingen mit Handlungsempfehlungen für alle Kirchenebenen erhalte. Der Bericht habe leider in den vergangenen Jahren von Jahr zu Jahr dramatischer ausfallen müssen. „Leider sind sich die Kirchen europaweit nicht einig. In Gesprächen etwa über den Islam gehen die Positionen in vielen Fällen nicht zusammen.“ Jeder Tote im Mittelmeer sei ein Anschlag auf die Grundordnung Europas, sagte der Kirchenrat: „Man nimmt das kaum noch wahr. Es gibt eine Gewöhnung an die Grausamkeiten. Wir als Kirche müssen klar in der Haltung sein und das Interesse an dem Thema wach halten.“

Dies war der erste von insgesamt sechs Samstagen in 2018, an denen die Melanchthon-Akademie zu der Veranstaltungsreihe „Offene Gesellschaft“ eingeladen hat. Ziel ist es, gemeinsam über eine „offene Gesellschaft“ in unserem Leben, unserer Stadt, unserem Land und Europa nachzudenken, darüber zu reden und Ideen für den Alltag zu entwickeln. Die Kölner Trinitatiskirche bietet dabei einen ungewöhnlichen Ort, an dem sich Menschen, Ideen und Gedanken begegnen können. Weitere Informationen unter: www.offene-Gesellschaft.kirche-koeln.de

Text: Stefan Rahmann
Foto(s): Stefan Rahmann