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„Wer das kulturelle Gedächtnis verliert, verliert die Orientierung“

Dass der Zweite Weltkrieg mit seinen 60 Millionen Toten unermessliches, jede menschliche Vorstellungskraft übersteigendes Leid über die Menschen gebracht hatte, betonten alle Mitwirkenden am ökumenischen Gottesdienst zum Gedenken an das Ende des Krieges vor 70 Jahren am 8. Mai 1945.

Vertreter der katholischen und evangelischen Kirche sowie der Stadt Köln hoben in St. Michael am Brüsseler Platz gemäß dem Motto „Erinnern für Heute und Morgen“ aber auch hervor, dass sich aus der Menschheitskatastrophe zumindest auf europäischer Ebene eine stabile, die Menschenrechte achtende Ordnung entwickelt habe, die es zu bewahren gelte.

"Seid untereinander freundlich, herzlich und vergebet"
Stadtsuperintendent Rolf Domning setzte den Ton, indem er die Versöhnungslitanei von Coventry vortrug, die in der von deutschen Bomben zerstörten englischen Stadt an jedem Freitag verlesen wird. Darin werden Rassenhass, Besitzgier, Neid, Entwürdigung durch sexuellen Missbrauch, aber auch mangelnde Teilnahme an der Not von Gefangenen, Heimatlosen und Flüchtlingen als Sünden vor Gott angeprangert. Doch die Litanei endet mit den Hoffnung machenden Worten: „Seid untereinander freundlich, herzlich und vergebet einer dem anderen wie Gott euch vergeben hat in Jesus Christus.“

Kein Vergessen!
Ein vorsichtiger Optimismus, gebündelt in den Worten: „Lasst uns dem Leben trauen, weil Gott es mit uns lebt“, durchzog ebenfalls die Predigt von Monsignore Pfarrer Rainer Fischer, dem Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Köln. Er bezog sich auf den Appell des Propheten Jeremias, Gott möge seinen Bund mit den Menschen aufrechterhalten, den Pfarrer Dr. Martin Bock, Leiter der Melanchthon-Akademie, zuvor verlesen hatte. Dieser Bund, so Fischer, entlasse den Menschen jedoch nicht aus der Verantwortung, stets sei mit der „Verführbarkeit der Mächtigen“ und dem mangelnden Mut der schweigenden Mehrheit zu rechnen. Schon aus diesem Grund müssten sich nachgeborene Generationen immer wieder aufs Neue den Abgrund an Menschenverachtung vor Augen führen, der sich in der Tyrannei der Nationalsozialisten und im Zweiten Weltkrieg offenbart hatte: „Wer das kulturelle Gedächtnis verliert, verliert die Orientierung“, sagte Monsignore Fischer.

Lehren aus dem Leiden
Dass es immerhin gelungen sei, Lehren aus den unvorstellbaren Verbrechen zu ziehen, zeige die Nachkriegsgeschichte, meinte Bürgermeister Dr. Ralf Heinen, der in Vertretung des erkrankten Oberbürgermeisters Jürgen Roters ein Grußwort sprach. Der Wiederaufbau habe nur dank der Unterstützung von Staaten gelingen können, die im Krieg noch zu den Feinden zählten. Heute habe Köln 22 Partnerstädte, darunter auch Wolgograd und Rotterdam, Städte also, die mehr als andere unter dem von Deutschen entfesselten Krieg zu leiden hatten.

Das gemeinsame "Haus Europa"
In den Fürbitten wurde denn auch um Hilfe für die „große Chance“ gebeten, die das gemeinsame „Haus Europa“ eröffne, aber auch für all jene, die „noch trauern und weinen können und die schreien für alle, die zum Schweigen gebracht wurden.“ Denn auch wenn man in vielen Ländern Europas mittlerweile relativ sorgenfrei leben könne, so brauchten doch all jene Beistand, „die auf der Flucht sind und keinen Ort auf der Welt mehr Heimat nennen können.“

Die Stimme für die Bedrängten
Den Blick auf aktuelle Missstände der Gegenwart lenkte Markus Zimmermann, Superintendent des Kirchenkreises Köln-Nord, bei der anschließenden Gedenkfeier im Hiroshima-Nagasaki-Park südlich des Aachener Weihers, als er für alle betete, „die ihre Stimme für die Bedrängten erheben“. Der Superintendent gehörte zu den Vertretern der christlichen, jüdischen und muslimischen Gemeinschaften in Köln, die dort den „Baum der Versöhnung“ symbolisch gossen. Vor genau zehn Jahren war dieser Baum zum Gedenken an die Opfer der Atombomben-Abwürfe gepflanzt worden. Daneben erzählten syrische Flüchtlinge von den Schrecken ihrer Flucht, aber auch von freundlicher Aufnahme in den christlichen Gemeinden. Dazu wurde die Chorweiler Friedensglocke geläutet, und der Chor Lucky Kids der Rheinischen Musikschule, der bereits den Gottesdienst in St. Michael begleitet hatte, sang die Hymne des Kölner Schmölzjes, den „Stammbaum“ der Bläck Fööss.

Text: Hans-Willi Hermans
Foto(s): Hans-Willi Hermans