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Prädikantin Judith Steffen predigte nach ihrer Ordination über den Propheten Jesaja

„Wenn über dem Berg die Sonne aufgeht“ – Prädikantin Judith Steffen ordiniert

Sonntag. Chorweiler. Regen. In der Betonwüste vereinen sich die Glockentürme der Katholischen und der Evangelischen Gemeinden schon fast zu einem gemeinsamen „Morgenappell“. Warum möchte man hier Prädikantin sein? Wozu den 2-jährigen Ausbildungsweg beschreiten? „Schreiten“, mittelhochdeutsch, Wort für „bogenförmige Gehbewegung“. Prädikantin Judith Steffen geht nicht, sie sitzt im Rollstuhl.

Sie lächelt. Sie schreitet nicht zum Altar vor, sie bricht nicht das Brot, sie schenkt nicht Wein in kleine Kelche. Judith Steffen ist da. Sie ist angekommen.

„Ich hatte keine Ahnung, welche Aufgabe vor mir lag. Es war harte Arbeit, bis zum heutigen Tage. Ich komme mir vor, einen schwierigen Berg erklommen zu haben. Stellen Sie sich vor, wie das mit einem Rollstuhl geht.“

Ihre Stimme habe überhaupt nicht die körperlichen Voraussetzungen für eine Predigt vor Publikum gehabt. Dies habe sie oft traurig werden lassen. Es sei der guten Arbeit mit ihrer Stimm- Therapeutin zu verdanken, dass sie heute die notwendige Atem- und Aussprache-Technik habe.

Judith Steffen strahlt. Und diese gewinnende Ausstrahlung muss das Presbyterium in der Idee bestärkt haben, das Ehepaar Steffen gemeinsam für die Prädikanten-Ausbildung zu empfehlen. Ihr Mann Guido, im Hauptberuf Pressesprecher der RWE, hat dabei immer auf die Energie seiner Frau vertraut, sie sei schon ‚ein ziemlich hartes‘ Kaliber. Im heutigen Festakt ist Prädikant Gudio Steffen rechte und linke Hand seiner Frau, „schreitet bogenförmig“ für sie durch den Altarraum, ist ihr technischer Beistand, aufmerksamer Gastgeber von Brot und Wein beim Abendmahl.

Ein Energiebündel mit starkem Willen. So beschreibt Klaus Eberl Judith Steffen als 10jährige. Vor 40 Jahren war der heutige Oberkirchenrat im Ruhestand ihr „Zivi“. Eine Unmenge von Operationen, beidbeinig im Gips, das Schicksal und der Wille dieses Kindes seien für ihn richtungsweisend gewesen. Menschen mit Behinderung und Inklusion haben fortan sein Berufsbild bestimmt. Heute überreicht er einen kleinen Holzengel, gefertigt im heilpädagogischen Zentrum im russischen Pskow. Ein Geschenk und Zeichen der Dankbarkeit: Die Keimzelle dieser „Initiative Pskow“ sei schließlich in der Begegnung vor 40 Jahren gelegt worden.

Die Worte. Prädikant heißt Prediger, altertümlich auch: Predigthelfer. Im 16. Jahrhundert war Martin Luther schon der Ansicht: „Alle Christen seien wahrhaft geistlichen Standes, da durch Taufe zu Priestern geweiht“. Zu Zeiten des Nationalsozialismus halfen in verwaisten Gemeinden Laien aus allen Altersgruppen, Berufen und sozialen Schichten aus. Heute wird der „Dienst am Wort“ – ohne Theologiestudium – im Talar versehen. Mit der Ordination von Judith Steffen reiht sich in die Gruppe der zirka 600 Prädikaten und Prädikantinnen der Evangelischen Kirche im Rheinland ein weiterer Mensch mit sichtbarer Einschränkung ein.

Superintendent Markus Zimmermann ordinierte Judith Steffen in der Evangelischen Kirchengemeinde Köln-Neue Stadt

Superintendent Pfarrer Markus Zimmermann stellt weiter fest: „Menschen finden bei uns Heimat, aber es gibt Stolpersteine. Wir haben gekämpft und viel gegeben, denn wir wissen: auch Menschen mit Einschränkungen sind eine Bereicherung für unsere Gemeinde. Ohne diese Erkenntnis wäre unser Tun hier sinnlos.“ Judith Steffen steht nach seiner Beobachtung tief im Glauben und im Vertrauen. Getreu Psalm 16 „Ich weiß mich geschützt und geborgen, daher ist mein Herz voll Dank.“ Schutz und Geborgenheit verleiht Kraft. Dies ist Vorbild für alle in der Gemeinde und darüber hinaus. Auf seine Frage „Was jammern wir so viel? Heute, ach was, regnet es. Gestern, ach, wenn Regen käme…“ antwortet Markus Zimmermann, unsere Kirche befände sich zwar im Umbruch, aber „das Jammern steht uns nicht.“ Die Gemeinde hier sei vorbildlich, sie breche auf. Und das in der Gewissheit, „Wir sind immer geschützt und geborgen und haben Grund uns zu freuen. Trotz allem, wir sind niemals allein.“ Diese Gemeinde wird die Prädikantin tragen. Die Kirche traut Judith Steffen die Aufgabe zu. Die Kirche wird durch sie bereichert.

Die Predigt. Judith Steffen schraubt ihren Rollstuhl auf Augenhöhe, ihr Mikrofon ist noch auszurichten. Sie erträgt die technische Vorbereitung im stillen Lächeln. Sie habe zwar keine Ahnung gehabt, welche Aufgaben auf sie zukämen, erklärt sie mit warmer klarer Stimme. Dieser höchste aller zu erklimmenden Berge habe sie auch oft traurig werden lassen. Aber bei allem danke sie ihrem Schöpfer für die aufgezeigten Wege, dafür, dass er sie begleite. Ihren Dank richtet sie an ihren Mentor, Pfarrer Bernhard Ottinger-Kasper, und an ihre Sprech-und Atmen-Therapeutin. Auch das Vertrauen ihrer Gemeinde und der Landeskirche haben sie gestärkt. Das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit durch Gott gab ihr Antrieb. Womit sie unmittelbar zum Kern ihrer Predigt vordringt: Der Bestandteil des Lebens, das Verständnis des Glaubens, was einem Menschen zugetraut wird. Mit Jesaja Kap. 49 entführt Judith Steffen ihre Zuhörerinnen und Zuhörer in die Zeit der Schriftpropheten rund 740 Jahren vor Christi Geburt. Jesaja reagierte auf die Verarmung der Bevölkerung und übte scharfe Kritik. „Hört her, Gott hat mich zu einem sicheren Treffer seines Wortes gemacht (…) ich habe meine Kraft erschöpft, aber der Herr wird meiner helfen“.

Jesaja habe gefühlt, dass er einen weltweiten göttlichen Heilsauftrag habe. Steffen meint, unsere „selbstdarstellerische Gesellschaft sollte zurückfinden zu Gnade und Liebe“. Menschen sollten darauf hoffen, dass „Gott uns von der Pein befreit. Wir sind keine Marionetten. Wir haben Verstand, sind eigenverantwortlich im Denken und Reflektieren“, können unser Denken, Tun und Handeln „zum Guten wandeln“. „Wir Christen unterscheiden uns von der ‚Just-for-Fun‘-Gesellschaft. Unser Auftrag ist Gottes Wort zu hören und wir sollen an unsere christlichen Wurzeln und Werte erinnert werden. Wir sollen ein Leben in Barmherzigkeit und Liebe führen“. Das seien keine „verstaubten Platzhalter“. Judith Steffen vertraut darauf, dass „Gott uns Schutz gibt und beisteht, auch wenn wir Ziele nicht erreichen können“. Die „praktizierende Lebensweise“ solle unser Vorbild sein. Dafür sei „verdammt notwendig fürs Zusammenleben“. Chorweiler sei so großartig, weil die Menschen friedlich und respektvoll miteinander umgehen.

„Jegliches Leben, Mensch, Tier und die Vegetation gehörten zusammen. Die Menschen müssten diese Abhängigkeit begreifen“, sie sei das „Fundament für den Erhalt unserer Bevölkerung“. Ohne dieses würde alles wie ein Kartenhaus einstürzen. Wir seien ein „Puzzle im Gottesreich. Unsere Lebensweise ist der Klebstoff, der die Puzzles zusammenhält“.

Im Anschluss an diese Botschaft stimmt Josef Nedzvetski in seiner ihm eigenen musikalisch-ergreifenden Art die Töne „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ an. Strophe 3 EG 369 im Chor mit dem überzeugenden Ensemble „Terra Nova“ erklingt: Man halte nur ein wenig stille, und sei doch in sich selbst vergnügt, wie unsers Gottes Gnadenwille, wie sein Allwissenheit es fügt; Gott, der uns sich hat auserwählt, der weiß auch sehr wohl, was uns fehlt.

Warum. Auf diese Frage hat die Prädikantin in ihrer Predigt selbst Antwort gegeben. Bevor es zum herzlichen Empfang weitergeht, reiht sich noch geschwind der katholische Nachbar-Pfarrer in die Gruppe der vielen Gratulanten ein. Er hat seine Messe früher beenden können und freut sich sichtlich. Keine Spur von Traurigkeit darüber, dass Judith Steffen noch vor einigen Jahren ein katholisches Schäfchen war.

Fazit. Ein Gottesdienst mit Judith Steffen ist anders. Nicht allein, weil die Menschen hier viel „wuseln“, schauen, wo eine Hand gereicht werden kann. Es ist vielmehr das Wort, was hier ein eigenes nachhaltiges Gewicht bekommt. Die Gedanken dieses Menschen mit sichtbaren Einschränkungen wirken nach.

Text: Eine Reportage von Antje Rabe
Foto(s): Antje Rabe