Die Künstlerin Birgit Schlechtriemen zeigt ihre Ausstellung „Weibsbilder“ im „Gulliver„, der Überlebensstation für Obdachlose im Bahnbogen unter dem Kölner Hauptbahnhof. Ihre Frauenfiguren sind nicht zu übersehen, aber in der Obdachlosenszene bilden Frauen eine Minderheit, deren Not größteteils nicht so offensichtlich wie die von Männern ist.
Farbenfroh und verspielt, mit floralen Elementen, präsentieren sich Schlechtriemens „Weibsbilder“. Zwei Darstellungen fangen sofort den Blick der Gäste, die die Treppe zum Café des Gulliver hinaufgehen. Mit prallen Schenkeln und gestreiften Strümpfen die eine, kämpferisch wie eine Amazone oder Dschungelgöttin die andere. Beide haben es Beate Janicki, Sozialarbeiterin im „Gulliver“, angetan und auch ihr Kollege Bernd Mombauer zählt sie zu seinen Lieblingsbildern. Mombauer gefallen die gegensätzlichen Typen von „Weiblichkeit“, die Schlechtriemen auf den beiden Eingangsbildern in Szene setzt. Auf seinem zweiten Lieblingsbild zündelt ein Mädchen, spielt mit schelmisch-unschuldigem Blick „mit dem Feuer“. Andere Darstellungen erinnern an Comic-Strips, eine weitere Serie beinahe an Werbeplakate mit Collagen-Elementen: Sie zeigen reduzierte Tuschezeichnungen von stilisierten Figuren, die in einzelnen Körperzonen durch Ornamente belebt werden.
„Schutzpanzer“
Schlechtriemens Frauenfiguren sind präsent in ihrer Körperlichkeit und ihren Posen. Die Wirklichkeit der wenigen Frauen, die im „Gulliver“ zum Selbstkostenpreis essen, ihre Wäsche waschen, duschen oder einfach einen geschützten Raum suchen, sieht anders aus: „Obdachlose Frauen, die allein oder älter sind, erkennt man kaum noch als Frauen“ weiß Mombauer. „Sie machen sich durch Kappen und weite Pullover beinahe geschlechtslos“. Janicki bestätigt, dass viele Frauen mehrere Schichten Kleidung übereinander tragen – nicht nur gegen die Kälte, sondern als Schutzkleidung im wahrsten Sinne des Wortes. Schutz bieten soll der Kleidungspanzer vor Gewalt, auch sexueller. Nicht nur die Weiblichkeit wird kaschiert: „Frauen sind versteckter wohnungslos“ weiss Janicki.
„Obdachlosigkeit von Frauen ist unterrepräsentiert“
Wenn Frauen ihre Wohnung verlieren, ziehen sie meistens erst einmal zu Bekannten. Das größere soziale Netz, das die meisten Frauen haben, lässt die Wohnungslosigkeit nicht so schnell offensichtlich werden. Häufig sind auch Zweckgemeinschaften, Beziehungen mit Männern, die mit Liebe nicht viel zu tun haben. Stattdessen soll der „Beschützer“ entweder ein Dach über dem Kopf bieten, oder Schutz vor Übergriffen. „Die offene Wohnungslosigkeit bei Frauen nimmt zu“ ist jedoch Janickis subjektiver Eindruck, vor allem unter jungen Frauen. Der größte Teil der weiblichen Wohnungslosen, die ins „Gulliver“ kommen, ist im Alter zwischen 19 und 29.
Mombauer schätzt, dass etwa ein Viertel bis ein Drittel der geschätzten 5.000 Kölner Obdachlosen weiblich sind. Als unterrepräsentiert sieht Janicki die Obdachlosigkeit von Frauen auch in der Forschungsliteratur: „Die meisten Diplomarbeiten zu dem Thema stammen aus den neunziger Jahren. Ich bin erschrocken darüber, wie wenig Neues an Forschungsliteratur auf dem Markt ist“.
Kunst als fester Bestandteil des Gulliver – für Künstler wie für Besucher
Haben Schlechtriemens kraftvolle Darstellungen noch etwas mit der tristen Wirklichkeit der Besucherinnen des „Gulliver“ zu tun? „Bei unseren weiblichen Mitarbeitern – wie ihre männlichen Kollegen fast ausnahmslos (ehemalige) Obdachlose – kommt die Ausstellung gut an“ weiss Mombauer. Auch die fröhliche Farbigkeit ist für die Räume wie geschaffen. „Wir brauchen viel Farbe. Wir hatten einmal eine tolle Ausstellung mit Schwarz-Weiß-Fotos, aber kurz vor Weihnachten war das damals vielen Besuchern hier zu trist“. Ausgestellt wird im „Gulliver“ seit seinem Bestehen, Schlechtriemen ist die 38. Künstlerin. Verantwortlich für die Auswahl ist die Kunstpädagogin Elvira Reith, die sich auch um die Hängung kümmert. Leer bleiben die Wände nicht mehr: „Mittlerweile fragen Künstler bei uns an, ob sie ausstellen können“ berichtet Mombauer. Der nächste Künstler könne erst im Frühjahr 2011 im ausstellen. Auch für ein Grußwort bei der Eröffnung findet sich immer ein Kölner Prominenter.
Zu schick für den „Tatort“
Ein Rundgang im „Gulliver“ zeigt, dass die Kunstwerke keineswegs triste Wände verbergen sollen. Hochwertige Gestaltung ist Prinzip: Auch die Wände der Sanitäranlagen wurden von Elvira Reith gestaltet, den Entwurf für den Ausbau des Bahnbogens lieferte das Architektenbüro Busmann & Haberer. An den Treppenstufen erinnern Grapheme des Künstlers Johannes Jäger an die „Zinken“, Geheimzeichen, die Landstreicher in der Vergangenheit an Häusern anbrachten. Gerne zitiert Mombauer die „Tatort-Anekdote“: Für die Folge „Platt gemacht“ sollte auch im „Gulliver“ gefilmt werden. „Den TV-Scouts war hier alles zu hochwertig. Das entsprach nicht den Klischeevorstellungen von einer Obdachlosenstube“ erinnert er sich. Also filmte man in einer klischeegerecht schmuddeligen Location und blendete den Namen „Gulliver“ ein, was viele Stammbesucher verärgerte.
Wege aus der Wohnungslosigkeit
Ein verstecktes Phänomen ist die Obdachlosigkeit in Köln mit geschätzten 5.000 Betroffenen nicht. Mombauer schätzt, dass etwa 100 „Stammkunden“, die dem „Gulliver“ etwa 150 bis 200 Besuche täglich abstatten. „Viele kommen morgens zum Frühstücken, und tagsüber noch einmal“. Ein Tagesschlafraum bietet Ruhe für die, die nachts auf der „Platte“ keinen Schlaf fanden, blitzsaubere Duschen und Toiletten stehen für die Körperpflege zur Verfügung. Wäsche kann zum Waschen abgegeben werden, im Hinterzimmer gibt es eine Ladestation für Handys und PCs mit Internetanschluss. Im hinteren Bereich stapeln sich vor einem der Gemälde Ruck- und Schlafsäcke. Mombauer berichtet von den wundgescheuerten Rücken vieler Obdachloser, die froh sind, hier ihre Habe abladen zu können. Eine Gepäckaufbewahrung im „Gulliver“ ist deswegen ein Zukunftswunsch.
Bis auf die Sozialarbeiter arbeiten im Gulliver fast nur Menschen, die selbst einmal obdachlos waren oder sind und wissen, was das Leben auf der Straße bedeutet. Ein-Euro-Jobs ebnen vielen den Weg zurück in einen strukturierten Tag. „Plötzlich fangen viele der Mitarbeiter wieder mit einer Lebensplanung an“ konnten Mombauer und Janicki beobachten. Unter Druck gesetzt wird im „Gulliver“, das sich als niedrigschwelliges Angebot versteht, aber niemand. Die Bilanz: „Alle, die in den letzten Jahren länger bei uns mitgearbeitet haben, haben jetzt wieder eine eigene Wohnung“ zieht Mombauer stolz Bilanz und verweist auf vier von fünf ehemaligen „Vorarbeitern“ des Gulliver, die sogar in den ersten Arbeitsmarkt zurückgefunden haben.
Begegnungen erwünscht
Während des Interviews betritt ein Grüppchen, das nicht recht in die Umgebung passt, das Café: Fünf Jugendliche, gestylt zwischen Gothic und Designer-Punk, bestellen an der Theke eine Mahlzeit. „Voll nett“ finden sie die Leute, und im „Gulliver“ sind sie gelandet, weil sie Hunger hatten und das billige Essen lockte. Solche Besuche sind erwünscht, solange sie nicht überhandnehmen und die Zielgruppe abschrecken. Die Begegnung zwischen Obdachlosen und „normalen“ Menschen ist auch ein Ziel, das die Kunstausstellungen verfolgen. Eine größere Ausstellung mit Empfang ist für Januar 2011 geplant, wenn das Gulliver sein 10-jähriges Bestehen feiert.
Öffnungszeiten: Noch bis 15. September
Die Ausstellung „Weibsbilder“ ist noch bis zum 15. September im Gulliver (Trankgasse 20, Bahnbogen 1, Hohenzollernbrücke, Rückseite des Bahnhofs) zu sehen. Öffnungszeiten: Montag bis Freitag 6 bis 13 und 15 bis 20 Uhr, Samstag und Sonntag 10 bis 18 Uhr.
Foto(s): avc