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Was ist eigentlich evangelische Spiritualität?

Herr Noesser, beim Thema „Spiritualität“ scheiden sich die Geister: Die einen halten es für eine Modeerscheinung, die anderen für den Kern, um den es in der Kirche eigentlich geht. Was ist es denn nun?

Stephan Noesser: Natürlich beides! Einerseits bringt der Begriff „Spiritualität“ meist nicht mehr als unseren Zeitgeist zum Ausdruck. Er ist eben „in“. Wellness-Kultur und Profitstreben verstecken sich dahinter genauso wie der Hang zur ständigen Selbstoptimierung. Der Chef eines Kaffee-Konzerns pries vor kurzem den Genuss seines Kaffees als eine besondere „spirituelle Erfahrung“ an. Damit meinte er lediglich eine ganzheitliche Erfahrung, die Körper und Seele einschließt. Den „Geist“ aber, dem sich der Begriff ursprünglich verdankt, vergaß er kurzerhand. Eine typische Verflachung heute!

Andererseits dürfen wir uns als christliche Kirchen aber keinesfalls „die Butter vom Brot nehmen lassen“. Denn Spiritualität ist ein Begriff christlicher Tradition und transportiert nicht nur ein zentrales menschliches Bedürfnis, sondern markiert auch ein wichtiges theologisches Anliegen. Gottes Geist weht eben wirklich, wo er will! Das Wehen des Geistes zu erden und spürbar zu machen, ist für alle Kirchen die zentrale Zukunftsfrage, die wir nicht verpassen dürfen. Spiritualität ist derzeit vielleicht die wichtigste Brücke des Evangeliums zu den Menschen. Durch das Evangelium wird dieser vieldeutige Begriff eindeutig.

Sie gehen davon aus, dass es eine spezifische evangelische Spiritualität gibt, kann man das so sagen? Worin besteht sie?

Stephan Noesser: In einer Zeit des Ringens um Verständigung zwischen den Religionen mag es kleinkariert wirken, noch mit konfessionellen Spezialitäten zu kommen. Aber im Jubiläumsjahr der Reformation ist es mehr als geboten, das bislang eher katholische Thema „Spiritualität“ evangelisch weiterzuentwickeln. Genau dazu wurden wir Evangelische schon vor vielen Jahren von fachkundiger katholischer Seite unmissverständlich aufgefordert. Unsere Wort-Theologie zu einer Wort-Spiritualität weiterzuentwickeln, sei unser spezifischer evangelischer Dienst an der gesamten Ökumene, hieß es damals.

Ich teile diese Erwartung, die Folgendes bedeutet: Einer evangelischen Spiritualität kann es nicht um die Übernahme irgendwelcher (außerchristlicher) Methoden gehen, die zum Wort der Bibel hinzutreten. Es geht vielmehr um das Wort als das „Kraftprinzip aller Spiritualität“. Das aber bedeutet: das Wort wird – wieder – zum Ereignis. Es ereignet sich in uns und unter uns. Vom Wort werden wir nur satt, wenn es seine ursprüngliche schöpferische Kraft entfalten kann. Dazu bedarf es neben anderem vor allem des Schweigens. Wenn Wort und Schweigen als Vorder- und Rückseite der einzigen Wirklichkeit Gottes nicht mehr aufeinander bezogen sind, verselbständigen sich Wort und Schweigen. Dann verzichtet unsere zu wortreiche Liturgie auf das Schweigen und unsere Stille vor Gott bleibt umgekehrt wortlos. Das darf nicht geschehen!

Natürlich gibt es unterschiedliche Gestalten von Spiritualität – auch der evangelischen. Aber das Wort Gottes vom Kopf ins Herz zu holen und zu erfahren, dass es satt macht, bleibt für jede evangelische Spiritualität zentral. Das setzt eine bestimmte Haltung, einen Lebensstil voraus, für den Schweigen ebenso grundlegend ist wie Regelmäßigkeit und Verbindlichkeit. Das meint der widerborstige Satz Fulbert Steffenskys: „Spiritualität ist Arbeit und kein Pflaumenkuchen“. Geistliche Übung und sola gratia widersprechen einander nicht. Das gilt es endlich einzusehen!

Sie forschen auch zum Herzensgebet. Nun gibt es ja verschiedene Phasen und Zentren, die das Herzensgebet vorangebracht haben: die Wüstenväter im frühen Christentum, griechisch-orthodoxe Klöster und auch die russischen Starzen. Gibt es eigentlich auch explizit evangelische Impulse oder gar eine evangelische Phase?

Stephan Noesser: Das Herzensgebet entschleunigt inmitten täglicher Betriebsamkeit und überwindet unser Gedankenkarussell durch das ständige Wiederholen eines Wortes (Mantra). Diese Übung zentriert uns, macht uns achtsamer und gegenwärtig im Augenblick. Sie ist aber letztlich keine bloße Technik. Sie ist im Kern christliche Praxis, Gebet, Anrufung des Gottesnamens. In dieser 1800-jährigen christlichen Tradition, die mittlerweile im Westen Fuß fasst, ist die evangelische Phase längst gekommen. KontemplationslehrerInnen wie die evangelische Theologin Sabine Bobert lehren diese Praxis mittlerweile ohne Überhang allzu kirchlicher Tradition („Klosterübungen im Westentaschenformat“). Auch von Stadt-EremitInnen ohne Kloster kann das Herzensgebet individuell im Alltag an der Bushaltestelle und im Stau eingeübt werden! Sich spirituell weiterzuentwickeln, ist auch im Fulltime-Job möglich.

Das ist unorthodox und umstritten, aber grundsätzlich ist das der evangelische Weg: weg von der Orthodoxie und hin zur alltagstauglichen Orthopraxis.

Zum Schluss interessiert mich noch Ihre Einschätzung, wie es spirituell weitergeht: Was meinen Sie, wie sieht unsere Kirche in zehn Jahren aus – in spiritueller Hinsicht?

Stephan Noesser: Ich will hier nicht der Sogkraft hin zu großen Worten erliegen, aber spirituell gibt es nur einen Weg: die Kunst zu erlernen, Wort und Schweigen so aufeinander zu beziehen, dass das Wort Gottes seine ursprüngliche Kraft wiedererlangt, in der Liturgie wie in der alltäglichen Frömmigkeit. Diese Fähigkeit entscheidet mit über die Zukunft unserer Kirche.

Text: M. Horstmann
Foto(s): S. Stappers