You are currently viewing „Draht zu Gott“: Missionale erstmals mitten in der Stadt
Der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Dr. Thorsten Latzel.

„Draht zu Gott“: Missionale erstmals mitten in der Stadt

„Herzlich willkommen, hier sind Sie goldrichtig!“ Fröhlich begrüßte die Sicherheitsmitarbeiterin die Besucherinnen und Besucher der Missionale 2022 am Kölner Gürzenich. Bei dem erstmals dezentral stattfindenden ökumenischen Glaubens- und Mutmacherfest bildete der Gürzenich den Schwerpunkt mit mehreren Foren, vielen Infoständen und als Ort des großen Abendsegens. Doch auch Antoniter- und Trinitatiskirche sowie das Domforum luden zu Bibelarbeit und Themenforen ein. Außerdem gab es bei dem erstmals seit drei Jahren wieder stattfindenden Treffen einen meditativen Spaziergang, ein Forum mitten im Stadtraum. All das passt zum Leitwort der diesjährigen Missionale: „Mittendrin“ – denn Kirche muss da sein, wo die Menschen sind, so die Botschaft.

Die aus mehreren Generationen stammenden Teilnehmerinnen und Teilnehmer konnten wählen zwischen Themenkomplexen wie „Kirche mitten im Umbruch“, „Mittendrin in einer zerbrechlichen Welt“ und „Mitten in einer Gesellschaft kultureller Vielfalt“. Viel Zuspruch fand das Forum „Warum evangelisch?“ mit dem Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Dr. Thorsten Latzel. Dass er launig und persönlich über seinen Glauben und seine Erfahrungen sprach, aus dem „Näh- und Seelenkästchen“ plauderte, wie Missionale-Pfarrer Christoph Nötzel kommentierte, kam an bei den Menschen im großen Saal des Gürzenich. Sieben Gründe führte Latzel dafür an, dass er, wie er sagt, – aus ,konfessionsverschiedener Familie stammend – protestantisch glaubt und lebt: „Gott, Hoffnung, Glauben und Denken, Freiheit, ein Ethos unbedingter Liebe, Pluralismus aus Glauben, versöhnte Verschiedenheit, Vertrauen.“

2,3 Millionen Päpstinnen und Päpste

Freiheit sei der Schlüsselbegriff evangelischen Glaubens, so der Präses in seinen Ausführungen. Er zitierte Martin Luther, der den doppelten Charakter dieser Freiheit beschrieben habe: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan. Und ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan.“ Die Freiheit liegt laut Latzel darin, dass das Leben ein Geschenk Gottes sei, „gratis, umsonst, für lau“. Und weiter: „Ich kann nichts dafür tun und nichts und niemand kann es mir nehmen. Und niemand hat mir deshalb etwas in meinem Leben letztgültig zu befehlen,“ erklärte Präses Thorsten Latzel. Zugleich sei der Mensch dadurch radikal gebunden: „Weil dieses Geschenk eben nicht nur mir gilt, sondern immer auch jedem anderen Menschen in gleicher Weise. Mit jedem anderen Menschen so umzugehen, dass mir in ihm oder in ihr Gott selbst begegnet, das bindet stärker als alles andere.“

Die Freiheit eines Christenmenschen sei in der evangelischen Kirche prägend: „Jede Christin und jeder Christ hat einen unmittelbaren Draht zu Gott. Wir kennen keinen Priesterstand als notwenigen Heilsmittler zwischen Gott und den Menschen, niemanden mit einer gesonderten Weihe.“ Die Evangelische Kirche im Rheinland sei eine Kirche „mit 2,3 Millionen Priester*innen, König*innen und Prophet*innen – dazu sind wir gesalbt, jeder von Ihnen, in der Taufe“, betonte der Präses und ergänzte. „Wir haben 2,3 Millionen Päpstinnen und Päpste“. Auf jeder Synode werde miteinander gerungen, „wir muten einander unsere Freiheit zu“, so Latzel. „Es gibt bei uns kein letztes Lehramt, keine vorgeschriebenen Dogmen, sondern ein Leben in letzter, tiefer Freiheit aus Gott. Jede kirchliche Ordnung muss sich daher daran messen, ob sie dieser Freiheit des Glaubens dient. Und wenn sie es nicht tut, dann können und müssen und werden wir sie ändern.“

Beim Abendmahl ökumenisch endlich weiterkommen

Zu Beginn hatte der Präses betont, dass er zwar aus protestantischer Perspektive spreche, dass dies aber keine „implizit negative Aussage“ gegenüber anderen Konfessionen, Religionen oder Weltanschauungen beinhalte. Die evangelische Kirche trete ein für eine versöhnte Verschiedenheit, für einen Pluralismus aus Glauben, so Latzel. „Es ist gut, dass es verschiedene Ausdrucksformen des Glaubens gibt. Es gibt immer diesen ,Christus für mich‘. Wichtig ist, dass uns dies nicht voneinander trennt, etwa bei der Feier des heiligen Abendmahls“, machte der Präses deutlich.

„Das Geheimnis, dass Christus gegenwärtig ist, das macht uns frei, stiftet Gemeinschaft, versöhnend.“ Theologinnen und Theologen versuchten, dies rational zu beschreiben, zu begreifen aber „letztlich erfassen können wir dieses Geheimnis des Glaubens alle nicht“, bekannte Latzel. „Deswegen ist es wichtig, an dem Wesentlichen festzuhalten: Christus ist der Einladende! Und wir sind alle Gäste. Deswegen laden wir eben bei der evangelischen Kirche alle Christinnen und Christen ein, am Mahl teilzunehmen. Und ich freue mich, wenn wir in der Perspektive des Textes ,Gemeinsam am Tisch des Herrn‘ ökumenisch hier endlich weiterkommen.“ Das sei etwas, „das auch mir als Kind aus einer konfessionsverschiedenen Ehe persönlich viel bedeutet: Setze keinen Punkt, wo Gott ein Semikolon setzt.“

Hoffnung aus Trümmern und Paradoxien

Das Thema Hoffnung habe ihn in den ersten eineinviertel Jahren seiner Amtszeit als Präses intensiv begleitet, gerade angesichts von Krieg, Corona, Flut und Klimawandel und der neu damit erfahrenen Verletzlichkeit des einzelnen Menschen wie der Gesellschaft insgesamt, erzählte Thorsten Latzel. „Die Menschen in den Kellern und U-Bahn-Schächten in der Ukraine: Was ist die Hoffnung, die sie am Leben hält?“, fragte er dann. Eine Frau in den Flutgebieten habe es einmal so ausgedrückt: „Ich habe nicht geweint, als die Wasser kamen, ich habe erst geweint, als die Hilfe kam. Das hat mir den Glauben an Gott und die Menschheit wiedergegeben.“

Bei seiner Sommertour der Hoffnung im vergangenen Jahr habe er etwa 40 Gemeinden besucht und Menschen nach ihren Hoffnungsgeschichten gefragt. Hoffnung war dann erneut das Thema bei Besuchen in den Flutgebieten. „Was gibt einem Hoffnung, wenn auf einmal eine verwüstete Stadt wie Bad Neuenahr daliegt, eine einzige Trümmerlandschaft, in der nichts mehr heil ist?“, fragte der Präses. „Meine Quintessenz: Hoffnung ist das, was Menschen selbst in den schwierigsten Situationen die Kraft verleiht nicht aufzugeben. Hoffnung ist etwas, was ich nie alleine habe, sondern das davon lebt, dass ich sie mit anderen teile. Hoffnung macht Menschen aktiv, sie macht uns stark zu handeln. Und sie hilft uns auch wieder loszulassen und die Zukunft in Gottes Hände zu legen.“

Missionsland Deutschland: Ein spirituell schlafender Riese

Bei der Missionale 2022 schwang auch die Frage mit, was es heute heißt, missionarisch Kirche zu sein und Menschen für die Botschaft Jesu begeistern zu wollen. Beim Forum „Voneinander lernen. Kirche in Mission im 21. Jahrhundert“ ging es um die Erfahrungen in einigen der – allein im Rheinland – rund 500 internationalen Gemeinden unterschiedlicher Prägungen sowie in frei- und landeskirchlichen Gemeinden. Dabei wurde aus dem Kreis der Teilnehmenden deutlich, dass die Existenz der internationalen Gemeinden als Grund zur Hoffnung gesehen wird: „Ist Deutschland Missionsland?“, fragte eine Teilnehmerin und dankte dann den anwesenden Vertreterinnen und Vertretern für ihren Dienst, nachdem Pastor Richard Aidoo von der freikirchlichen „New Life Church“ in Düsseldorf berichtete, dass zu seiner Gemeinde mit Menschen aus 50 Nationen auch viele, gerade junge Deutsche kommen.

„Deutschland braucht Mission“, bestätigte Richard Aidoo. „Deutschland ist spirituell ein schlafender Riese.“ Deshalb hat der Pastor bereits 2011 die Initiative „5 Minuten Gebet für Deutschland täglich“ und im vergangenen Jahr das „Gebet der Nationen für Deutschland“ ins Leben gerufen. „Denn Deutschland muss wach sein“, so Richard Aidoo. Deutschland sei eine christliche Nation und Martin Luther habe der Welt viel gegeben. „Deutschland braucht jetzt unsere Hilfe“, betonte Richard Aidoo.

Modernes Missionsverständnis: Gemeinsam auf dem Weg

Superintendent Jürgen Buchholz vom Kirchenkreis Niederberg unterstrich, dass das alte Missionsverständnis heute nicht mehr gelten könne – nicht nur wegen seiner imperialistischen Anklänge oder aus dem Zeitgeist heraus, sondern aus einer besseren Kenntnis der biblischen Sprache heraus. „Macht euch auf den Weg und lasst alle Völker mitlernen“ heiße es heute in der Bibel in gerechter Sprache – und nicht mehr „Geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern“. Nicht die Kirche habe eine Mission, „sondern Gott hat eine Mission – und die Kirche ist ein Teil davon“. Der Zweck der Kirche sei nicht, sich selbst zu genügen, sondern über sich hinauszuweisen und eine Gemeinschaft zu sein, die das Reich Gottes abbildet.

„Ich habe da ein Bild im Kopf: Wir gehen als Kirche mit Gott unterm Arm irgendwo hin und teilen ihn aus. So würde das nicht funktionieren“, betonte Buchholz. „Nicht wir bringen als Kirche Gott zu den Menschen, sondern Gott ist immer schon da. Denn seine Liebe ist umfassend und überall. Und ich kann da hinkommen und in Kommunikation gehen und sehen, was sich entwickelt, wenn ich mit Menschen in Kontakt komme und bezeuge und lebe, Gemeinde lebe.“

Über den eigenen Glauben sprechen

Bendix Balke, Gründer und Pfarrer der Interkulturellen Gemeinde An Nahe und Glan, berichtete aus seiner Erfahrung: „Ich bin überzeugt, dass es Deutsche gibt, die es gerne sehen, wenn es Kirche auch mal wagt, anders zu sein, etwas unkonventionell, etwas bunter.“ Das „Forum Bad Kreuznach“ erreiche eher Einheimische als Migranten, darunter Menschen, für die Kirche noch einen positiven Klang habe, Menschen, die von der Praxis enttäuscht sind und sich zurückgezogen haben, oder Menschen, die „lange nichts mit Kirche am Hut hatten und das spannend finden“. Balke: „Uns hilft es, dass Migranten ganz selbstverständlich von ihrem Glauben sprechen.“ Erst in der Begegnung merke man, dass sich das viele Menschen hier gar nicht trauen. Wenn dann jemand sage, dass er oder sie ohne Gebet, ohne Bibel, ohne Segen nicht leben könnte und wenn es dann noch Menschen seien, die monatelang oder Jahre auf der Flucht waren und sagen „Mein Glaube hat mir die Kraft dafür gegeben“, dann bekämen er und viele in der Gemeinde Gänsehaut.

„Vielleicht ist es so, dass Menschen, die nicht so durch die Aufklärung geschritten sind wie wir, sagen: ,Selbstverständlich habe ich eine ganz persönliche Beziehung zu Jesus, selbstverständlich kann ich mir mein Leben nur als Geschenk Gottes vorstellen, selbstverständlich lebe ich von der Kraft des Heiligen Geistes‘.“ Das könne ein Anstoß sein sich zu fragen: Wie kann ich meinen Glauben ausdrücken? Wie kann ich ihn so leben, dass ich davon nicht gleich etwas zurücknehme? „Wir sind auf der Suche nach einer gemeinsamen Spiritualität“, so Pfarrer Bendix Balke, „und ich glaube, das kann uns auch nur gemeinsam gelingen.“

Antirassismus muss überall ein Thema sein

Missionale-Pfarrer Christoph Nötzel und Simone Enthöfer, Landespfarrerin für Missionale Kirche in der Evangelischen Kirche im Rheinland, zogen eine positive Bilanz der Missionale 2022. Für Enthöfer ist wichtig: „Mittendrin, bei all unserer Begeisterung, unserem Tun, ist Gott selber. Was wir tun können, ist dem Heiligen Geist Landebahnen bauen. Mittendrin ist der Heilige Geist selber.“

Corona, die Flut, Krieg, Angst und Terror hätten die Menschen verändert. „Aber vielleicht ist ja auch Platz für Mut-Räume geworden“, so Enthöfer. „Mut-Räume zu sagen: das ist nicht nur mein Haus, mein Herd, mein Garten, sondern auch: das ist mein Scherbenhaufen.“ Im Dialog mit Nötzel empfahl sie dann „Trostbrot, Gracefruit, Rudelsalat, Wildkirchentee und Frommbeeren“, um zum Neudenken und zum Aufbruch einzuladen sowie Mut zu machen. Ihr Traum ist, dass die Missionale zukünftig wie ein kleiner Kirchentag überall in der Stadt stattfindet und alles durchdringt: Gemeinden, Geschäfte und das ganze Stadtbild.

Nächste Missionale für 2024 geplant

Im Juni wird die nächste Missionale stattfinden, wieder im Gürzenich. Im März 2023 findet die Jugendmissionale in Mülheim als Jugendfestival statt.

www.missionale.de

Text: Hildegard Mathies /APK
Foto(s): APK