Alarmierende Zahlen musste Helga Blümel bekannt geben: „Jedes vierte Kind in Köln lebt von staatlichen Transferleistungen“, sagte die Geschäftsführerin des Diakonischen Werks Köln und Region beim Frühjahrsgespräch des Stadtsuperintendenten im Refektorium im Haus der Evangelischen Kirche vor zahlreichen Journalisten. Neben Stadtsuperintendent Rolf Domning nahm auch Walter Fuchs-Stratmann, stellvertretender Leiter der Melanchthon-Akademie, Sozialreferent und geschäftsführender Vorstand der Gemeinschaftsstiftung Diakonie Stellung zum Thema des Abends.
„Wir dürfen nicht nachlassen“
Der Stadtsuperintendent stellte von Anfang an klar: „Armut in Köln und Region ist immer auch eine Anfrage an mich als Theologen und an die immer noch gut ausgestattete Kirche“ und verwies auf eine EKD-Denkschrift zum Thema Armut aus dem Jahr 2006: „Der damalige EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber hat Armut in unserem Land als ,Skandal‘ benannt. Armut ist ein gesellschaftliches Versagen vor Gottes Geboten.“ „Jesus hatte kein philosophisches Verständnis von Armut“, fuhr Domning fort: „Er wusste als Sohn eines Zimmermanns, was Armut ist. Man denke an das Gleichnis mit den Arbeitern im Weinberg. Jeder, egal wie lange er gearbeitet hatte, bekam das Gleiche und konnte so einen Tag lang seine Familie ernähren. Das Reich Gottes ist die Gerechtigkeit.“ Domning erinnerte an den Armutsbericht der Bundesregierung: „13 Prozent aller Deutschen leben in Armut.“ Er lobte die „Kreativität der Ehrenamtlichen an der Basis, Armut entgegen zu treten. Wir dürfen da nicht nachlassen. Damit steht und fällt die Glaubwürdigkeit von Kirche“.
Allein in Köln: Köln 110.000 Menschen von Armut betroffen
Helga Blümel berichtete von der Situation vor Ort: „Vom Bildungspaket der Bundesregierung sind in Köln 110.000 Menschen in 65.000 Haushalten betroffen. Es gibt mittlerweile regelrechte Familiendynastien, die in Armut leben und seit Generationen von Transferleistungen abhängig sind.“ Der gesellschaftliche Sündenfall sei jener Moment gewesen, ab dem es nicht mehr genügend Arbeit für alle gab. Seitdem seien die Arbeitslosen von der gesellschaftlichen Teilhabe abgehängt worden und hätten sich danach oft in Teufelskreise verstrickt: Überschuldung, Sucht, psycho-soziale Erkrankungen. „Jetzt würde selbst ein neuer Job die Probleme dieser Menschen nicht mehr auf Anhieb lösen.“ Aufgabe der hochprofessionellen Mitarbeitenden der Diakonie sei es, die Teufelskreise so früh wie möglich zu durchbrechen. „Zwei Drittel unserer Arbeitsfelder beschäftigen sich mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Die Diakonie hat ihre Kompetenz in Brennpunkten.“ Man betreibe neun Kindertagesstätten und ein Jugendzentrum in so genannten sozialen Brennpunkten. Man biete Hilfen zur Erziehung und übernehme Vormundschaften. Dazu berate man ganz konkret vor Ort Menschen mit Suchtproblemen, Überschuldete, Wohnungslose und Flüchtlinge. Die diakonischen Träger Kölns beschäftigen dabei zusammen rund 5.000 Mitarbeitende.
Präventiv arbeiten mit dem Ziel „Verdrängung von Armut“
Als konkretes Beispiel nannte Blümel ein Projekt der Schuldnerberatung in Schulen und Tageseinrichtungen für Jugendliche. „Es ist unerträglich. Die Überschuldung geht mittlerweile schon unter 20 los mit Handy-Verträgen, Katalogen und Bestellmöglichkeiten im Internet, wo sich niemand darum kümmert, woher das Geld stammt, mit dem dann bezahlt wird.“ Spätestens hier werde klar, wie wichtig die Präbention sei. Mit Hilfe einer Diakoniespende, zu der der Evangelische Kirchenverband Köln und Region vor einigen Jahren aufgerufen hatte, habe man didaktisches Material zusammengestellt, mit dessen Hilfe man den Kindern und Jugendlichen beibringen könne, wie sie mit ihrem Geld umgehen sollten. Eine Mitarbeiterin „tingelt“ damit durch Schulen und Jugendeinrichtungen. Hier komme es vor allem darauf an, Kindern und Jugendlichen an sich einfache Grundlagen zu vermitteln, zum Beispiel: „Man muss auch mal warten können, bis man sich einen Wunsch erfüllen kann“, sagte Blümel und nannte das Projekt ein „gutes Beispiel für die Verdrängung von Armut“. Weitere konkrete Hilfen seien Projekte wie beispielsweise „Kinder in Bewegung“ und „Kita macht Musik“. Damit seien Kinder aus belasteten Milieus erfolgreich angesprochen worden, Sport zu treiben und sich mal mit einem Musikinstrument zu befassen.
„Diakonie ist in Wort und Tat ganzheitlicher Dienst am Menschen“
Fuchs-Stratmann verwies auf die Rolle der Diakonie als Münze mit zwei Seiten. Sie verstehe die Armut als Thema wie auch als reale Bedrängnis von Menschen. Diakonie helfe, wenn Hilfe notwendig sei, und warte nicht ab, bis Konzepte geklärt oder Debatten zu Ende geführt seien: „Diakonie ist in Wort und Tat ganzheitlicher Dienst am Menschen. Kirche und Diakonie wollen aber auch die Ursachen der Nöte erkennen und nicht nur Symptome behandeln. Ihr Augenmerk gilt auch den Wurzeln von Armut, Ungerechtigkeit, Benachteiligung und Ausgrenzung.“ Deshalb positioniere sich die Kirche in vielfältiger Art und Weise in den politisch-gesellschaftlichen Strukturen, deren Teil sie sei. Stadtsuperintendent Rolf Domning erinnerte in dem Zusammenhang daran, dass die Frühjahrssynode des Evangelischen Kirchenkreises Köln-Mitte kürzlich unter anderem gefordert habe, den Sozialpolitischen Ausschuss des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region wieder einzusetzen. Dessen Aufgabe sei es auch, zu gesellschaftspolitischen Fragen Stellung zu beziehen.
Je größer die Diakonie, desto schlechter die Verhältnisse
Blümel räumte ein, dass zumindest theoretisch die Gefahr bestehe, dass Kirche und Diakonie auseinander driften könnten. „Es gibt mitunter unterschiedliche Denkstrukturen. Wir müssen uns bei unserer Arbeit zum Beispiel mit 86 verschiedenen Finanzierungswegen auseinander setzen.“ Je schlechter die Verhältnisse seien, umso größer seien die öffentlichen Etats, um Abhilfe zu schaffen, und umso größer werde die Diakonie sagte sie zum Thema „Ökonomisierung der Diakonie“. Domning sagte, die Diakonie entwickele sich immer mehr in Richtung Konzern. Dabei bestehe die Gefahr, dass sie sich vom Denken in den Gemeinden entferne. „Wir haben einen Fachdienst gegründet, der die Zusammenarbeit von Angeboten der Gemeinden vor Ort mit den Profis des Diakonischen Werks koordiniert.“ Wichtig sei dabei vor allem auch die regionale Anbindung: „Wir bieten zum Beispiel Suchtberatung und Schuldnerberatung vor Ort an. In Stammheim/Flittard gibt es eine Siedlung mit Menschen, die fast alle bei Bayer beschäftigt waren und über Nacht arbeitslos wurden. Die evangelische Gemeinde war mit den daraus entstandenen Problemen überfordert. Wir haben dann ein halbes Jahr erfolgreich dort gemeinsam gearbeitet und uns dann wieder herausgezogen. Die Gemeinde ist sehr zufrieden.“
Bündnisfähigkeit und Solidarität
Fuchs-Stratmann appellierte an die „Bündnisfähigkeit der Menschen und an die Solidarität“. „Ich bin arm, mein Nachbar ist arm, und dessen Nachbar auch. Mensch, da sind wir ja schon viele.“ Und neben der materiellen Armut gebe es auch noch die spirituelle: „Wer nicht entspannt und angstfrei über seine Zukunft nachdenken kann, ist auch arm.“
Foto(s): Rahmann