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Vom Singen: Rainer Stuhlmann im DeutschlandRadioKultur

in der Woche vom 6.-11.September sendet DeutschlandRadioKultur morgens um 6.23 jeweils ein „Wort zum Tage“ von mir unter der Überschrift „Singen – im Auf und Ab des Lebens“. Die Sendung kann auch später noch im Internet gehört werden..

Und hier die Original-Texte von Pfarrer i.R. Rainer Stuhlmann, exklusiv bei uns zum Nachlesen:

Ich singe gerne. Nicht nur im Chor des Kölner Bachvereins. Nicht nur in Philharmonie und Kirchen. Ich singe auch gerne in der Badewanne. Und das verbindet mich mit vielen anderen Menschen. Auch mit denen, die sich selbst als „unmusikalisch“ bezeichnen.
Wenn die nämlich sicher sein können, dass sie niemand hört, dann wagen auch sie zu singen. Dann sind sie nicht mehr blockiert durch Erinnerungen an ungeliebte Musikstunden in der Schule, an die peinlichen Situationen, in denen sie singen mussten. Dann schämen sie sich nicht wie damals, als sie sich vorgeführt fühlten, auch wenn es dafür vielleicht keinen Grund gab.
Singen ist zwar einerseits eine hohe Kunst. Aber die Wanne offenbart es: Singen ist auch ein ganz natürlicher Ausdruck von Lebensfreude. Die göttliche Geistkraft, die in uns allen steckt, bricht sich so Bahn. Für manche ist Singen auch Summen. Andere pfeifen mit den Lippen. Wieder andere trommeln mit Fingern oder Händen oder treten mit dem Fuß den Takt. Menschen geben der Geistkraft, die in ihnen wohnt, Ausdruck. Sie sind so voll von dem, was sie bewegt, dass sie es einfach rauslassen müssen.
Dann singen Menschen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Sie scheren sich nicht um schiefe Töne. Sie fühlen sich befreit. Wenn sie sich zum Beispiel unter der Dusche das warme Wasser wohlig über den Rücken laufen lassen. Oder wenn sie über eine bunte Sommerwiese spazieren und wie von selbst eine Melodie auf den Lippen haben. Oder wenn sie etwas austüfteln, wenn sie basteln oder backen, bei vielen unscheinbaren Gelegenheiten im Leben.
Und dahinein reiht sich auch das kunstvolle Singen ein im Solo oder im Chor, in Oper oder Konzert. Immer ist Singen Ausdruck eines großen Glücksgefühls. Ausdruck des Genießens. Singen kommt aus einem dankbaren Herzen. „Wes das Herz voll ist, dem geht der Mund über“ sagt Jesus. Singen befreit. Der Geist der Freiheit bricht sich Bahn.
Und doch ist Singen nicht selbstverständlich. Menschen können es verlernen. Kinder können singen. Wie Kinder spielen können. Schon sehr früh und ganz spontan. Viele Erwachsene haben versäumt, das Kind in sich zu kultivieren. Sie sind ungeübt in der Kunst der Selbstvergessenheit. In der Kunst zu feiern und absichtslos zu spielen.
Manchmal erkennen wir erst spät, was uns verloren geht, wenn wir beim Singen, Spielen und Feiern aus der Übung kommen. Wenn wir uns auf den Ernst des Lebens beschränken lassen. Wenn wir vor lauter Pflichten nicht mehr dazu kommen, auch einfach mal das Leben zu genießen. Der Geistkraft Gottes Raum zu geben. Wenigstens hin und wieder mal kräftig auf die Pauke hauen! Wenn Sie also heute morgen noch nicht geduscht haben, dann versuchen Sie es doch gleich mal und stimmen Sie Ihre Lieblingsmelodie an!

Singen und Trauern
„Aber bitte nicht singen!“ Oft habe ich diesen Satz gehört, wenn ich mit Angehörigen eines verstorbenen Menschen über die Gestaltung der Trauerfeier gesprochen habe.
„Aber bitte nicht singen! In dieser Situation ist mir nach Singen absolut nicht zumute. Ich glaube, ich kriege da keinen Ton raus. Schon jetzt spüre ich, wie mir der Kloß im Halse steckt und mir die Kehle wie zugeschnürt ist.“
Bei allem Verständnis für den Widerstand der Trauernden gegen Gesang habe ich ihnen von meinen Erfahrungen als Pastor erzählt. Die Stille in der Trauerhalle kann beklemmend und trostlos wirken. Die Menschen sitzen nebeneinander und jeder ist mit seiner Trauer alleine „Es war kalt“, sagen viele, wenn Menschen buchstäblich sang- und klanglos zu Grabe getragen wurden.
„Sie selbst müssen ja nicht singen“, habe ich den Trauernden zugesichert. Aber ich habe von vielen Menschen gehört, die auch erst skeptisch gegenüber Gesang bei einer Trauerfeier waren, dass ihnen in dieser Situation Gesang und Musik gut getan haben. Und dann waren die Hinterbliebenen oft einverstanden damit, dass bei der Trauerfeier auch gesungen wird.
Manche haben dadurch ihre Fassung verloren. Bei den ersten Takten brachen ihre Tränen hervor. „Das hat aber gut getan“, konnten sie später sagen.
„Wir haben durch die Lieder indirekt und darum umso intensiver zu spüren bekommen“, erzählen andere, „dass wir nicht allein waren in dieser traurigen und schweren Stunde. Der Gesang aus vielen Kehlen um uns herum gab uns das Gefühl, getragen zu werden. Wir fühlten die vielen Schultern, die die Last der Trauer mit uns teilten. Und das hat gut getan.“
Menschen spüren so die Solidarität anderer. „Die singen jetzt für mich, an meiner statt.“ Diese Erkenntnis bildet sich in den Tiefen der Seele. Und das können Menschen annehmen, weil sie es umgekehrt genauso tun würden. Einer trägt des anderen Last. Und die Musik gibt dieser Erfahrung emotionalen Tiefgang.
Schon immer hat es stellvertretendes Singen gegeben. Ich darf schweigen, wenn um mich herum gesungen wird. Andere bewahren den Rhythmus, wenn ich aus dem Takt geraten bin. Andere halten die Stimme, wenn ich den Ton nicht treffe. Andere singen kraftvoll, wenn ich’s nur lautlos kann, wenn ich allenfalls summen kann. Ich muss nicht selber aktiv werden. Ich habe die Freiheit, in dem Maße mit zu tun, wie es mir gut tut.
Ich muss die Melodien nicht erst erfinden. Ich kann sie hören und dann nutzen und in sie einstimmen – gerade so, wie mir jetzt zumute ist. Es gibt die strahlenden Klänge in Dur für meinen Jubel, so wie es die einfühlsamen, wehmütigen und mitleidenden Melodien in Moll gibt. Wie die Freude, so kann auch die Trauer auf diese Weise Ausdruck finden. Musik hilft mir, auch wenn ich selbst verstimmt und verstummt bin.

Singen und Feiern
Als ich vor mehr als zehn Jahren nach Köln zog, habe ich natürlich als Neuling sechs Tage lang den Karneval in der Stadt mitgefeiert.
Am meisten beeindruckt haben mich dabei die Lieder. Auswendig, vier, fünf Strophen singen die Menschen. Ob alt ob jung. Ob schlicht, ob schlau. In aller Öffentlichkeit. Auf Straßen und Plätzen, in Kneipen und Sälen. Lauthals. Erst traute ich meinen Ohren nicht. Dann verstand ich voller Staunen mehr und mehr von den Texten. Ich entdeckte lauter geistliche Lieder.
Geistliche Lieder haben ihren Platz nicht nur im Gottesdienst, sondern werden auch im Alltag gesungen. Sie bringen etwas von der Religion, dem Glauben der Menschen im Alltag zum Ausdruck. Und diese Art geistlicher Lieder entdeckte ich im Karneval.
„Es gibt ein Leben, ein Leben nach dem Tod“, heißt es da zum Beispiel nach jeder Strophe eines Liedes. Und diese Zeile wird schnell zu einem Ohrwurm. Während die Menschen ausgelassen feiern, erinnern sie sich, dass das noch nicht alles ist, sondern nur der Vorgeschmack auf ein noch größeres Fest. Ihren Glauben an ein Jenseits auszusprechen und noch dazu in der Öffentlichkeit, genieren sich die meisten Menschen. Aber als Lied geht es ihnen leicht von den Lippen.
„Der liebe Gott weiß, dass ich kein Engel bin. In jedem steckt ein kleiner Teufel drin“, heißt es in einem anderen Schlager. Was für eine nüchterne Weltsicht singen sich damit die Menschen gegenseitig zu. So verbieten sie sich jeden religiösen wie moralischen Hochmut, und leiten sich gegenseitig zur Bescheidenheit und zum gnädigen Umgang miteinander an.
„Wir lieben das Leben, wir lieben die Lust. Wir glauben an den lieben Gott und haben immer Durst“, heißt es in der berühmten Kölner Hymne „Viva Colonia!“ Ein Glaubensbekenntnis mitten zwischen Durst und Lebenslust.
Natürlich sind solche Texte Satire. Und die meisten Menschen singen sie nach, ohne darüber nachzudenken, was sie singen. Aber das haben Lieder so an sich. Wer anfängt, darüber zu diskutieren, dem erscheinen sie natürlich bald auch als fragwürdig. Manchmal werden sie sogar als Ausdruck von Irrlehre und falscher Religion gedeutet. Vielleicht hätte ich das früher auch so gesehen.
Heute ist mein Staunen größer als meine theologische Kritik. Auch über Jahrhunderte alte Choralzeilen lässt sich trefflich streiten. Bloß singt die heute nur noch eine Minderheit. Die geistlichen Lieder im Karneval aus Tausenden von Kehlen sind Lieder der Begeisterung. Begeisterung vielleicht auch für Gott, der den Menschen beim Feiern nahe ist. Davon lasse ich mich gerne anstecken. Ins Gespräch führen können sie dann immer noch.

Singen und Kämpfen
Singen befreit. Das können Sie schon sehr eindrucksvoll in der Fußball-Arena erleben. Wenn ich gelegentlich mal mit ins Stadion genommen wurde, haben mich am meisten die lautstarken Gesänge beeindruckt. Da kann man als Pastor ganz schön neidisch werden, wenn aus tausendfachem Mund nicht nur Fußballhymnen ertönen, sondern – ständig wiederholt auf eine eingängige Melodie – ein großes Halleluja nach dem anderen erklingt.
Und dann sind da die Kampflieder der Fans. Keine Angst! Kampflieder rufen nicht zur Gewalt auf, auch wenn es so klingt. Kampflieder haben beim Spielverlauf eine wichtige Funktion, sie feuern das eigene Team an und verunsichern die Gegner.
„Zieht den Bayern die Lederhosen aus!“, singen sie zum Beispiel gegen die siegverwöhnten Münchener. Und die Kölner müssen sich bei jedem Gegner den Spottvers anhören: „Ihr seid ja nur ein Karnevalsverein“. Und wenn die Mannschaft vorn liegt, singen die Kölner Fans voller Ironie: „Wir sind ja nur ein Karnevalsverein“. So machen die Fans der eigenen Mannschaft Mut und Hoffnung.
Lieder sind auch im richtigen Leben gewaltfreie Instrumente in einem leidenschaftlichen Kampf um Gerechtigkeit. Immer wieder kämpfen Menschen auch mit Liedern für ihre Rechte. Vor hundert Jahren hallten die Feiern am 1. Mai und die Demonstrationszüge der Arbeiterbewegung wider von der Internationalen und anderen Arbeiterliedern aus tausenden von Kehlen.
„Wir sind die Moorsoldaten“ haben die von den Nazis unterdrückten Zwangsarbeiter in ihren Lagern im Emsland gesungen. Das Singen konnten die Männer der SS nicht verhindern. Hier stießen sie an die Grenzen ihrer Macht. Und umgekehrt übten die Gefangenen mit ihren Liedern ihre Macht aus. Sie ließen den Unterdrückern nicht das letzte Wort. So stifteten die Lieder an zur Solidarität untereinander.
Singen hatte eine große Bedeutung bei der friedlichen Revolution 1989 in Leipzig. Und die Reformation hätte ihren Siegeszug im 16. Jahrhundert nicht antreten können ohne die neuen evangelischen Lieder.
Kampflieder machen den Singenden Mut. Sie geben Kraft und Ausdauer. Kampflieder sind Widerstandslieder. Und Widerstandslieder sind Hoffnungslieder. Auch viele Psalmen in der Bibel sind Hoffnungslieder der Unterdrückten, Protestsongs gegen die Unterdrücker gleich welcher Art. Jüdische Kampflieder, die die Christenheit übernommen hat. Zum Beispiel mit den Gospels der schwarzen Sklaven in den Südstaaten der USA.
Die Kampflieder machen die Christenheit zu einer weltweiten Widerstandsbewegung „gegen den Tod und gegen die Herren, die mit dem Tod uns regieren.“ Singen hat Macht. Singen befreit.

Singen und Klagen
„Ein zwölfjähriges Mädchen“, lese ich in der Tageszeitung. „hat mehrfach in einer Kirche bei Paris gezündelt, weil es sich an Gott rächen wollte. Die Zwölfjährige warf Gott vor, ihre kleine Schwester nicht geschützt zu haben, die im Sommer 2009 bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Als Priester und Polizei dem Kind auf die Schliche kamen, gestand es zerknirscht seine Taten ein.“
Hoffentlich, so denke ich, hat der Priester sich dabei auf seine Rolle als Seelsorger besonnen. Hoffentlich folgt der Zerknirschung des Mädchens sehr bald die Gewissheit, dass wenigstens an ihren Gefühlen nichts Unrechtes ist.
Kinder sollen lernen, dass sie kein Feuer legen dürfen. Ja. Das ist die eine Seite. Aber auf der anderen Seite haben auch wir ach so vernünftigen Erwachsenen etwas von diesem Kind zu lernen. Denn was das Kind fühlt, das halte ich nicht für falsch.
Mag sein, dass die Zwölfjährige sich Gott allzu kindlich vorgestellt hat. Mag sein, dass statt Gottes ein oder mehrere Menschen sich für den Unfalltod verantworten müssen. Wie dem auch sei, am Ende aber bleibt die bittere Frage „Warum?“. Und sie bleibt unbegreiflicherweise ohne Antwort stehen. Und diese Frage stellt niemand cool, sondern so leidenschaftlich und vorwurfsvoll wie das Kind. Wer nicht an Gott glaubt, kennt diese Gefühle genauso. Sie gehen nur an eine andere Adresse, wie das Schicksal zum Beispiel. Oder sie richten sich ins Leere.

Die Rachegefühle der Zwölfjährigen erlaube ich mir in dieser Intensität nicht. Dass sie Gott abgrundtief hasst, das kann ich aber nachempfinden. Und es beeindruckt mich, wie ein Kind diesen Hass zulassen kann, den wir Erwachsenen uns unter dem Druck erlernter Moral meist nicht gestatten.

Ich bin als Pastor mehr als einmal Erwachsenen begegnet, die diesen Hass auf Gott in sich spürten. Zum Beispiel den Eltern eines Kindes, das durch einen Unfall ums Leben kam. Sie waren dankbar, dass ich ihnen als Pastor Mut gemacht habe, solche Gefühle zuzulassen. Sie waren erleichtert, von mir zu hören, dass auch ich so fühle.

Und sie haben gestaunt, dass auch in der Bibel Menschen ihre Wut auf Gott aussprechen, wenn ihnen Unrecht geschehen ist. Ihre Loblieder werden zu Klageliedern. Hiob zum Beispiel beschimpft Gott, der ihm wie ein Sadist erscheinen muss, als seine zehn Kinder durch einen Unfall ums Leben kommen. Er zitiert ein Klagelied nach dem anderen und wagt, im Gebet Gott auf die Anklagebank zu setzen.

Auch Menschen, die sich lieben, kennen Zeiten, in denen sie einander ablehnen. Und manchmal können sich solche Gefühle bis zum Hass steigern. Nur wer das wahrnimmt, zulässt und ausspricht, statt es zu verdrängen, kann sich für neue Erfahrungen öffnen. Von Kindern können wir es lernen. Manchmal können sie zu ihrer eigenen Überraschung erleben, wie sich solche dunklen Gefühle allmählich wieder zum Guten verwandeln.

Text: Stuhlmann
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