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Miriam Haseleu ist stellvertretende Superintendentin des Kirchenkreises Köln-Mitte

Vom Charakter der Kirche in der Krise – die Chance gestalten

„In der Krise beweist sich der Charakter“ zitiert Pfarrerin Miriam Haseleu Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt. „In gewisser Weise gilt das auch für Institutionen und auch für die Kirche. Dabei ist die Krise der Ursprungszustand der jüdisch-christlichen Tradition“, schreibt die stellvertretende Superintendentin des Evangelischen Kirchenkreises Köln-Mitte in einem Beitrag über die bisherige Zeit in der Corona-Pandemie. „Was muss die Kirche in einer gesellschaftlichen Krise beitragen?“ fragt sie dabei, gibt Antworten und macht Mut:

Es waren tiefe Krisen, in denen die Grunderfahrungen unseres Glaubens gemacht wurden und die zentralen Texte der Bibel entstanden. Erfahrungen von Krieg und Flucht und neuen Anfängen in der Fremde prägten die alttestamentlichen Schriften. Die Erfahrung des Todes Jesu und der Zerstörung Jerusalems durch die römische Großmacht liegen den neutestamentlichen Büchern zugrunde. Eigentlich ist der Umgang mit der Krise die Kernkompetenz der Kirche – oder sollte es zumindest sein.

Was muss die Kirche in einer gesellschaftlichen Krise beitragen? Die Pandemie hat Krankheit und Tod mehr in die Mitte unserer gesellschaftlichen Wahrnehmung gebracht. Sie sind sichtbarer geworden und für viele Menschen näher gerückt.

Einerseits könnte man meinen, es gibt darin eine Chance zur Enttabuisierung in unserem Reden über Sterben und Trauer, andererseits schürt die Pandemie Ängste und Unsicherheiten, die erstmal im Vordergrund stehen und oft Dialoge verhindern. Als Kirche haben wir hier einen echten Schatz: Die Seelsorge als Raum, in dem Trauer und Schmerz gemeinsam ausgehalten und getragen werden können. Rituale, die den überwältigenden Gefühlen einen Ausdruck verleihen und in der Ohnmacht des Sterbens und der Trauer Halt geben können. Psalmen, Lieder und Geschichten, die dem Unsagbaren Worte schenken können. Und zu uns gehört eine Hoffnungsbotschaft, die um die tiefste Dunkelheit weiß und den tiefsten Schmerz kennt, und gerade darin davon zeugt, dass das Leben trotz allem stärker ist als der Tod.

Die Pandemie verstärkt an vielen Stellen Krisen und Problemlagen. Persönliche Krisen, Beziehungskrisen, wirtschaftliche Krisen. Für diejenigen in einer gefestigten Partnerschaft oder in einer stabilen Familienkonstellation ist der Lockdown mit Kreativität zu managen und bringt teilweise sogar mehr gemeinsame Zeit. Gleichzeitig werden die, die sich einsam fühlen, noch weiter isoliert. Die, die alleinerziehend sind, müssen noch mehr kämpfen. Und die, die in Beziehungen leben, in denen das Verständnis und der Respekt füreinander abhandengekommen sind, geraten an ihre Grenzen. Diejenigen, die in zerrütteten oder gar gewalttätigen Familien leben, stehen zusätzlich unter Druck.

Als Kirche können wir einen Raum schaffen, der ohne Druck auskommt, in dem Menschen mit ihrem Scheitern willkommen sind. Das Brüchige darf sein. Und der Neuanfang wird für möglich gehalten. Bei allen Mustern, die uns als Menschen prägen und die zu verändern schwierig ist, gilt: Ich kann jeden Tag neu beginnen. Dieser liebevolle und zugleich ehrliche Blick auf mich selbst mit all der Brüchigkeit und der Chance des Neuanfangs wohnt dem Christentum inne. Eines der großen Schlagworte der Reformation lautet „sola gratia“ – „allein aus Gnade“. Ich würde das so übersetzen: Geschenktes Leben bedeutet immer wieder neu geschenktes Leben, neue Erfahrungen, neue Perspektiven, neue Möglichkeiten, neue Wege. Für unsere Gemeinschaft gibt es keine Bedingungen. Begegnung mit mir, mit anderen und mit Gott gelingt ganz ohne Leistungsanforderung und macht Neues möglich.

Die Pandemie schwächt die Menschen, die schon benachteiligt sind und wenig Ressourcen zur Verfügung haben, für sich selbst einzustehen. Als Kirche sind wir immer, aber in dieser Situation umso mehr, gefragt, Stimme derer zu sein, die entrechtet werden und sich selber nicht Gehör verschaffen können.

Es ist unabdingbar, dass wir als Kirche laut und deutlich einstehen für einen menschenwürdigen Umgang mit denen, die bei der Flucht über das Mittelmeer in Lebensgefahr geraten und an den Außengrenzen Europas unter elenden Bedingungen ausharren müssen. Ebenso ist es unsere Aufgabe für diejenigen einzustehen, die durch Corona in Not geraten. Für Menschen, die im Sterben liegen. Für Menschen, die in Krankhäusern, Pflege- und Seniorenheimen darauf angewiesen sind, gut versorgt und von den ihnen nahestehenden Menschen besucht zu werden. Für die Trauernden. Hier ist unsere Stimme im ersten Lockdown nicht deutlich genug wahrnehmbar gewesen. Und es gilt weiterhin, wach und aufmerksam zu sein.

Die Pandemie ist eine große Krise, aber nicht die einzige, die uns akut betrifft. Sie hat einen Einfluss auch auf die Klimakrise. Einerseits konnte sich die Natur durch den deutlich eingeschränkten Reiseverkehr an manchen Stellen ein wenig erholen (Delphine in den Kanälen von Venedig und bessere Luftqualität weltweit), andererseits werden manche Vorgaben für den Klimaschutz ausgesetzt oder geraten in den Hintergrund. Als Kirche sind wir Anwältin der ganzen Schöpfung. Nachhaltiges Handeln und Denken und eine politische Stimme für die Bewahrung unserer wunderbaren Welt bleiben eine große Aufgabe.

Die Pandemie bedeutet Verunsicherung und Anstrengung. Es ist mühsam, die Einschränkungen und Verluste auszuhalten und die Entwicklungen nachzuvollziehen. Die virologischen Zusammenhänge und der Diskurs über den angemessenen Umgang damit sind komplex und für die meisten Menschen völlig neu. Das bringt Überforderung, Sinnfragen und Suchen nach einem „Warum“ mit sich, die kaum oder gar nicht beantwortbar sind. Als Kirche eröffnen wir in unseren spirituellen Angeboten Räume, in denen ich mich selber als Teil eines großen Ganzen in Beziehung zu anderen und zu Gott als dem Ursprung und Grund des Lebens erfahren kann. Unbeantwortbare Fragen können gestellt und abgegeben werden. Erfahrungen von Getragen- und Gehaltensein können gemacht werden. Durch spirituelle Erfahrungen und den Glauben wird der Horizont weiter.

Gesellschaftlich ist die Pandemie für die Kirche Chance und Herausforderung, die wir gemeinsam groß denken und gestalten können. Mit einem krisenfesten, freundlichen, beweglichen und aufgeschlossenen Charakter könnte das gelingen.

– Miriam Haseleu, Pfarrerin in Köln Nippes

Text: Miriam Haseleu
Foto(s): Miriam Haseleu