"Ich bitte Sie, Ihr Herz und Ihr Ohr zu öffnen für alle Menschen in Ihrer Umgebung, deren Lebensdurst so groß und ungestillt ist.“ Mit diesem Appell hat sich Christoph Pistorius, Vizepräses der Evangelischen Kirche im Rheinland, an die Besucherinnen und Besucher des Neujahrsempfangs der evangelischen Kirchengemeinden in Bergisch Gladbach in der vollbesetzten Zeltkirche in Kippekausen, die im vergangenen Jahr 50 Jahre alt geworden ist, gewandt. Christinnen und Christen müssten nicht selbst die Quelle des lebendigen Wassers sein, das sei Gott, sagte er mit Blick auf die Jahreslosung 2018: „Aber vielleicht reicht es, ein offenes Ohr und ein hörendes Herz zu haben für den Lebensdurst unserer Freunde, unserer Nachbarn, von jungen Menschen und letztlich auch für unsere eigenen Sehnsüchte.“ In seiner Predigt legte Pistorius die Jahreslosung „Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst“ aus der Johannes-Offenbarung anhand der drei Begriffe „Durst“, „Quelle“ und „Ich“ aus.
„Ich denke an einen 15-jährigen jungen Mann, von dem uns bei einer Andacht auf der diesjährigen Landessynode erzählt wurde“, leitete Pistorius seine Ausführungen zum Thema „Durst“ ein. Die Eltern ließen sich scheiden, der Vater kümmerte sich nur noch mit seiner neuen Ehefrau um die kleine Schwester, die Mutter hatte keine Zeit für den 15-Jährigen. „In dieser Situation findet dieser junge Mann eine religiöse Gemeinschaft, in der man Zeit und Verständnis für ihn hatte. In der man ihn aber auch verführte zu religiösem Fundamentalismus und Extremismus. Man gab ihm versalzenes Wasser“, fuhr der Vizepräses fort: „Es geschah, wie man befürchtet: Er ist zu einem Dschihadisten geworden und sitzt heute in Haft.“ Pistorius stellte die Frage, welcher Lebensdurst die Menschen antreibt: „Ich möchte mir einen offenen Blick für die Menschen in meiner Umgebung bewahren – gerade für die Jugendlichen in meiner Nachbarschaft und an dem Ort, an dem ich wohne und lebe. Mit welchem Lebensdurst blicken sie auf ihre persönliche Zukunft und was oder wer ist in der Lage, ihren Durst zu stillen?“, fragte er die Gemeinde.
Zum Thema „Quelle“ erklärte der Vizepräses unmissverständlich: „Unsere Kirche, unsere Gemeinden, unsere Diakonie müssen Räume eröffnen, die den Zugang zur Quelle des lebendigen Wassers eröffnen. Und unsere Gottesdienste müssten Orte sein, an denen die Quelle lebendigen Wassers fließt.“ Die Gemeinden müssten Orte sein, an denen Menschen sich begegneten, an denen Zweifelnde und Unsichere willkommen seien und an denen Menschen vom Rand der Gesellschaft zugehört werde. Pistorius zitierte aus der Neujahrsbotschaft von Franz-Josef Overbeck, Bischof des Ruhrbistums. Er habe gefragt, was 80 oder 90 Prozent aller Kirchensteuerzahler, die selten bis gar nicht am Leben in den Gemeinden teilnähmen, dazu bewege, einen Teil ihres Gehaltes an die Kirche abzugeben. „Ich frage mich, was sie erwarten und wünschen und wie wir Begegnung mit ihnen ermöglichen können. Wahrscheinlich brauchen wir ganz andere Formen und Weisen kirchlichen und christlichen Lebens – auch außerhalb unserer alten ‚Kirchtürme‘ an ganz neuen Orten.“
Pistorius nahm den Faden auf und ergänzte: „Das meine ich, wenn ich von der Öffnung der Gemeinden für die Quelle des lebendigen Wassers spreche.“ Es gelte, an der Qualität der Gottesdienste und gemeinsamer Spiritualität zu arbeiten. „Und nicht so viel Kraft da hinein zu investieren, dass an jedem Sonn- und Feiertag in jeder Kirche und jedem Gemeindezentrum mehr schlecht als recht ein Gottesdienst abgehalten wird.“ Das Augenmerk müsse darauf gerichtet sein, der Quelle Raum und Gelegenheit zu geben.
In dritten Teil seiner Predigt widmete sich Pistorius dem „Ich“. „Wir leben in einer Zeit, in dem unserem ICH eine große Wichtigkeit beigemessen wird. Wir reden über unsere individuelle Persönlichkeitsentwicklung, wir hören tief und unentwegt in uns hinein, was zu unserer Persönlichkeit passt und was sie ausmacht. Wir werden angehalten, unsere Wünsche und Ziele zu entwickeln, und unser Selbst ist immer weiter zu optimieren. Wir leben in einer Zeit, in der wir gerne glauben, dass wir selbst unsere eigene Quelle sind, aus der wir trinken“, kritisierte er den immer weiter um sich greifenden Egoismus in der Gesellschaft. Denn es seien nicht die Vorhaben und Pläne des Einzelnen, die ihn in der Zukunft nährten und begleiteten. Es sei Gott, der lebendiges Wasser verheiße: „Nicht unsere Masterpläne machen unsere Kirche zukunftsfähig, sondern Gott bereitet uns den Weg und nährt uns aus der Quelle des lebendigen Wassers.“ Deshalb gehe es auch nicht darum, dass Kirchen und Gemeinden selbst die Quellen des lebendigen Wassers seien. Es gehe darum, Räume zu öffnen und Gelegenheiten zu schaffen, um die Menschen einzuladen und auf die Quellen des lebendigen Wassers hinzuweisen.
Andrea Vogel, Superintendentin des Kirchenkreises Köln-Rechtsrheinisch, beschloss den Gottesdienst mit dem Segen und dem Friedensgruß. Sie wünschte zunächst allen ein friedvolles Jahr 2018. „Und ich wünsche Ihnen, dass Ihre Sehnsucht nach Gelingendem Sie nicht verlassen möge.“ Oft sei man getrieben von den friedlosen Zuständen der Welt. „Wir erkennen, es geht nicht ohne Sehnsucht nach anderem – nach Gelingendem. Es ist uns viel gelungen im vergangenen Jahr im Rahmen des Reformationsjubiläums. Mögen wir die Sehnsucht wach halten nach dem gelingendem friedvollem Leben.“ Im Anschluss an den Gottesdienst fand der Jahresempfang der evangelischen Kirchengemeinden in Bergisch Gladbach statt.
Foto(s): Stefan Rahmann