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„Verwurzelt im Judentum! Leben wir das?“ – Gottesdienst der ACK im Kölner Dom zum Gedenkjahr „1700 Jahre Judentum in Deutschland“

„Es ist eine gute Tradition im Rahmen der Dreikönigswallfahrt, dass auch die Ökumene zu Wort kommt“, begrüßte Stadtdechant Monsignore Robert Kleine im Kölner Dom die Teilnehmenden am Gottesdienst der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) in Köln. Dieses Mal feiere man das Jubiläum „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. Mit dem Ökumene-Kreuz im Altarraum richteten die ACK-Mitglieder den Blick auf die Feststellung und Frage: „Verwurzelt im Judentum! – Leben wir Christinnen und Christen das?“

Stadtsuperintendent Bernhard Seiger im Kölner Dom

Dabei besannen sie sich auf das biblische Zeugnis zum Verhältnis von Judentum und Christentum. Dazu trifft Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Rom wesentliche Aussagen. So sprach Stadtsuperintendent Bernhard Seiger den Lesungstext Römer 11,1-2.16-18. Im Römerbrief sagt der Apostel, dass Gott sein im Voraus erwähltes israelitisches Volk keineswegs verstoßen hat. Und er verdeutlicht, dass Christinnen und Christen sich nicht geringschätzig über die Nachkommen Abrahams stellen sollten. „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich“, betont Paulus die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens.

Darüber predigte kenntnisreich Pater Elias H. Füllenbach, Prior des Dominikanerkonvents in Düsseldorf. Er ist Vorstandsmitglied des Deutschen Koordinierungsrats der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und katholischer Gast in der Fachgruppe „Christen und Juden“ der Evangelischen Kirche im Rheinland. Der Theologe fand klare Worte für gravierende christliche Versäumnisse, christliche Arroganz gegenüber dem Volk Israel in der Vergangenheit. Zugleich wandte er sich den gegenwärtigen Bedingungen zu. Er forderte dazu auf, den Jüdinnen und Juden in unserem Land unsere Solidarität zu zeigen angesichts zunehmender Judenfeindschaft. Er appellierte, „bei allem, was uns voneinander trennt – als Christen untereinander, aber eben auch als Christen und Juden –, unseren gemeinsamen Auftrag für diese Welt nicht aus den Augen (zu) verlieren“.

Christen und Juden in Deutschland verbinde eine wechselvolle Geschichte. erklärte einführend Superintendentin Susanne Beuth, Vorsitzende der ACK in Köln. „Die jüdische Minderheit wurde immer wieder in Wort und Tat ausgegrenzt, abgewertet, verfolgt, bis hin zu Pogromen und planmäßiger Vernichtung im Holocaust.“ Auch die Kirchen hätten weitgehend antijudaistisch gedacht und gepredigt. Heute pflegten wir ein anderes Verhältnis. „Wir nehmen dankbar Traditionen wie Psalmgebete und die Texte der hebräischen Bibel auf“, so die Pfarrerin der Evangelischen Kirchengemeinde Köln-Klettenberg. „Wir sind uns bewusst, dass sie nicht unserer eigenen Tradition entstammen, sondern älter sind, dass wir sie dem Judentum verdanken.“ Heute übten wir die Sprache der Geschwisterlichkeit. „Wohl wissend, dass wir sehr aufmerksam sein müssen, um nicht in die Fallen alter Denk- und Sprachmuster zu geraten“, mahnte Beuth.

Pater Elias H. Füllenbach, Prior des Dominikanerkonvents in Düsseldorf

„Wer seine Wurzeln nicht kennt, hat keinen Halt“, zitierte Füllenbach eingangs seiner Predigt den deutsch-jüdischen Schriftsteller Arnold Zweig. Das gleiche meine der Apostel Paulus, wenn er der jungen christlichen Gemeinde in Rom ins Stammbuch schreibe: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“ Dabei gehe es Paulus um die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens. Diese sollten in Rom und an anderen Orten nicht vergessen werden. Aber merke man uns als Christinnen und Christen die Verwurzelung im Judentum auch an, fragte Füllenbach. „Ist uns wirklich bewusst, dass wir als Christinnen und Christen ohne unsere jüdischen Wurzeln haltlos sind, dass eben unser christlicher Glaube diesen Halt dringend braucht?“ Füllenbach äußerte Zweifel. Unverändert sei für so manchen Getauften das sogenannte Alte Testament ein fremdes Buch ´mit sieben Siegeln´. Dabei habe die päpstliche Bibelkommission vor zwanzig Jahren erklärt: „Ohne das Alte Testament wäre das Neue Testament ein Buch, das nicht entschlüsselt werden kann, wie eine Pflanze ohne Wurzeln, die zum Austrocknen verurteilt ist.“

Uns seien oft Bezüge zum Alten Testament aber gar nicht (mehr) bewusst. „Dabei singen wir in unseren Gottesdiensten Lieder, beten Psalmen, lesen und hören uralte Texte aus der Heiligen Schrift, die zu unserer christlichen Tradition gehören, aber zugleich auf die jüdischen Wurzeln unseres Glaubens verweisen.“ Auf diese Wurzeln verwiesen auch die Paulus-Texte. Philipp Melanchthon habe den Römerbrief als die Zusammenfassung der christlichen Theologie bezeichnet. Füllenbach bestätigte, dass wohl kaum ein Text im Neuen Testament eine so reiche Wirkungsgeschichte entfaltet habe, wie der Römerbrief. Dieser habe immer wieder Menschen, unter ihnen Augustinus und Martin Luther, inspiriert und dadurch (Kirchen)Geschichte geschrieben. „Im 20. Jahrhundert, nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und der Schoah, dem millionenfachen Massenmord an den europäischen Juden, war es wieder der Römerbrief des Paulus, der einen theologischen Lernprozess in Gang setzte.“ Dieser Prozess, „unser christliches Verhältnis zum Judentum“, sei bis heute nicht abgeschlossen, betonte der gebürtige Düsseldorfer.

Füllenbach nannte die 1965 verabschiedete Erklärung „Nostra aetate“ des Zweiten Vatikanischen Konzils. Ihr attestierte er, einen entscheidenden Wandel im katholisch-jüdischen Dialog eingeleitet zu haben. Dabei habe sie sich genauso auf den Römerbrief berufen, wie der Synodalbeschluss der rheinischen Landeskirche 1980 zum christlich-jüdischen Verhältnis auf protestantischer Seite. Aber was in vielen folgenden kirchlichen Erklärungen zum Thema stehe, „muss auch unsere Gemeinden, uns alle, unseren Kopf und unser Herz erreichen“. Das sei gar nicht so einfach, gab Füllenbach zu bedenken. Denn der Römerbrief sei keineswegs leicht zu verstehen. Zudem könne dieser gründlich missverstanden werden, „wenn er mit einem bestimmten Vorverständnis gelesen wird“. Gerade der eben gehörte Abschnitt sei über Jahrhunderte hinweg von Christen zur Abwertung des Judentums missbraucht worden.

Obwohl offen antisemitische Predigten heute in unseren Gemeinden hierzulande kaum mehr zu finden seien, beschleiche ihn manchmal ein gewisses Unbehagen, so Füllenbach. „Gerade die Kirchen, wir als Christinnen und Christen, sind aufgefordert, an der Seite unserer jüdischen Schwestern und Brüder zu stehen“, betonte der Prediger. Jahrhundertelang sei das unterlassen worden. „Dass der christliche Antijudaismus Bedingung und Voraussetzung für den nationalsozialistischen Judenmord war“, nannte Füllenbach eine historische Tatsache. „Der neuzeitliche Antisemitismus konnte nur deswegen so erfolgreich sein, ´weil er die judenfeindliche Einstellung der Christen für seine Zwecke einkalkulierte und zu nutzen wusste´“, erinnerte er an die Formulierung eines deutschen theologischen Arbeitskreises.

„Dass sich unsere Kirchen gleich welcher Konfession erst nach der Schoah auf die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens besannen, dass erst der Schock von Auschwitz nötig war, um einen langsamen Prozess der Umkehr in den Kirchen einzuleiten, müsste uns zutiefst beunruhigen.“ Der positive Wandel im christlich-jüdischen Verhältnis sei insbesondere dem jahrzehntelangen Einsatz einzelner Frauen und Männer zu verdanken. Diese seien wegen ihres Engagements in den 1950er und 1960er Jahren immer wieder angegriffen und von offizieller Seite sogar der Häresie und des Indifferentismus bezichtigt worden.

Füllenbach sprach davon, dass wir hineingewoben blieben in die Schuldgeschichte der Menschheit. Auch wenn wir selbst gar nicht schuldig geworden seien. Die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen, diese Schuld unserer Vorfahren präge uns bis heute. Dasselbe gelte für uns als Christinnen und Christen: „Wir sind eben nicht nur Jünger und Jüngerinnen Jesu, sondern auch Teil einer blutigen Kirchengeschichte, ob wir das nun wollen oder nicht“, nannte Füllenbach etwa die blutigen Kreuzzüge und Konfessionskriege. „Mir scheint, dass in unserem Umgang mit dieser geerbten Schuldgeschichte sogar eine mögliche Ursache unserer derzeitigen Glaubenskrise liegen könnte, weil wir uns als individuelle Einzelpersonen nicht mehr als Teil eines großen Ganzen verstehen, so nach dem Motto: Was haben denn die Verbrechen unserer Großväter und -mütter, unseres Landes oder unserer Kirchen mit uns zu tun?“ Natürlich gebe es theologisch wie politisch keine Kollektivschuld, aber eine Kollektivverantwortung.

Füllenbach erinnerte daran, dass es neben Zeiten der Verachtung und Verfolgung auch Phasen gegenseitiger Annäherung, des friedlichen Zusammenlebens und der Wertschätzung gegeben habe. Aber zur Wahrheit gehöre auch, „dass jüdisches Leben in unserem Land bedroht war und bis heute gefährdet ist“, sprach er von Polizeischutz für Synagogen, von regelmäßigen Drohbriefen und Hassmails an jüdische Gemeinden und Personen. „Sind wir denn immer noch so naiv, dass wir diese Hassbotschaften für bloße Worte halten, denen keine Taten folgen könnten?“

Die offiziellen Vertreter der christlichen Kirchen in unserem Land stünden heute an der Seite der jüdischen Gemeinden. Sie verurteilten unmissverständlich und öffentlich den Antisemitismus, der in unserer Gesellschaft immer wieder hervorbreche. „Es geht um unsere Verantwortung als Christen, unsere Treue zu Gott und seinem Volk, das er niemals verstoßen hat.“ Füllenbach forderte, dass wir als Gesellschaft, als christliche Gemeinschaften und Gemeinden Kontakt zu den Jüdinnen und Juden in unserem Land suchten und ihnen unsere Solidarität zeigten angesichts zunehmender Judenfeindschaft und um sich greifender Verschwörungstheorien.

Füllenbach sieht uns dem Lauf der Welt nicht einfach hilflos ausgeliefert. Es sei Kernbestand christlichen wie jüdischen Glaubens, dass wir nicht von irgendeinem Schicksal abhängten. Gott habe uns in diese Welt gestellt, damit wir uns entschieden auf die Seite der Unterdrückten und Gedemütigten stellten. Füllenbach zitierte den jüdischen Philosophen Franz Rosenzweig, der Juden und Christen einmal als „Arbeiter am gleichen Werk“ bezeichnet habe. Es gehe also darum, „dass wir uns gemeinsam für die Bewahrung der Schöpfung, für Frieden und Gerechtigkeit und gegen den Hass in dieser Welt einsetzen“, warb er für deutlich mehr christlich-jüdische Projekte vor Ort.

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich / APK