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Vergabe der Pfarrer-Georg-Fritze-Gedächtnisgabe an Dogan Akhanli

Stehende Ovationen für Doğan Akhanlı. Vor weit über 200 Besuchenden im Haus der Evangelischen Kirche erhielt der türkischstämmige Schriftsteller die Pfarrer-Georg-Fritze-Gedächtnisgabe. Seit 1981 wurden unter anderem Amnesty International, Aktion Sühnezeichen, Pro Asyl, Medica mondiale e.V., „Rabbis für Human Rights“, die Evangelische Kirche in Marokko und der Förderverein „Kölner Flüchtlingsrat“ mit der Gedächtnisgabe bedacht.

Damit zeichnet der Evangelische Kirchenkreis Köln-Mitte Personen oder Gruppen aus, die sich für Opfer von Diktatur und Gewalt einsetzen. Sie wird verliehen im Gedenken an den im Nationalsozialismus von den eigenen Glaubensgenossen aus dem Amt gedrängten und 1939 gestorbenen Georg Fritze, erster evangelischer Pfarrer an der Kartäuserkirche. Seit 2000 wird sie alle zwei Jahre vergeben. Dotiert ist sie mit 10.000 Euro. Der Wahlkölner Doğan Akhanlı ist der 27. Preisträger.

Überzeugend für Menschenrechte eingetreten
„Der Evangelische Kirchenkreis Köln-Mitte hat im letzten November beschlossen, Ihnen die Pfarrer-Georg-Fritze-Gedächtnisgabe zu verleihen, weil Sie in überzeugender Weise durch Ihre Person und Ihr Lebenswerk für die Menschenrechte in der Türkei eingetreten sind, insbesondere für die Anerkennung der Rechte von Kurden und Armeniern. Die Synode hat auch überzeugt, dass Sie bereit waren, den von der Türkei bis heute nicht öffentlich eingestandenen Völkermord an den Armeniern in den Jahren 1915 und 1916 aufzuarbeiten“, begründete Superintendent Rolf Domning.

Menschen, so wie Georg Fritze
Unter den Gästen begrüßte Domning Mitglieder der armenischen Kirche, die Enkelin von Georg Fritze sowie die Witwe von Pfarrer Friedrich-Wilhelm Hellenberg, der sich als damaliger Superintendent stark engagiert habe für die Stiftung der Pfarrer-Georg-Fritze-Gedächtnisgabe. Mit ihr wolle der Kirchenkreis diejenigen auszeichnen, „die unverzagt sind und sich nicht erschrecken lassen. Menschen, die, genauso wie Georg Fritze damals, auch heute den Mut haben, sich Diktatur, Unterdrückung, Gewalt und Einschüchterung entgegenzustellen“, erläuterte Domning. „Wir wissen es, wir hören es täglich, Mut und Beharrlichkeit, um für Toleranz und Menschenwürde einzutreten, sind auch heute Tugenden, die wir in Kirche und Gesellschaft wie in allen Religionsgemeinschaften brauchen, um friedlich und mit Respekt einander zu begegnen und in Frieden miteinander leben zu können.“

Armenisches Volkslied zu Beginn
Domning freute sich, dass man mit dem renommierten Filmemacher Fatih Akın einen Laudator habe gewinnen können, „der in der Vergangenheit wie auch durch sein neuestes Werk Mut und Entschiedenheit bewiesen hat, unangenehme und kontroverse Themen aufzugreifen“. Für die musikalische Gestaltung dankte Domning Thomas Neuhoff und Banu Böke. Der künstlerische Leiter des Bach-Vereins Köln begleitete am Klavier die deutsch-türkische Sopranistin beim Vortrag dreier Stücke, darunter ein armenisches Volkslied eines Emigranten und das von Robert Schumann vertonte Gedicht „In der Fremde“ von Joseph von Eichendorff.

Die vier Redner vor dem Haus der Evangelischen Kirche: Oberbürgermeister Jürgen Roters, Doğan Akhanlı, Fatih Akın und Superintendent Rolf Domning (v.l.)
Dialog zwischen Gläubigen und Atheist

In seinem Grußwort charakterisierte Oberbürgermeister Jürgen Roters Georg Fritze als hellsichtige und mutige Persönlichkeit seiner Zeit, die „nicht mitgeschwommen ist“. Auch gegenwärtig und zukünftig brauche es Menschen, „die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzen und dafür auch Widerstände in Kauf nehmen“. Für Roters gehört Akhanlı zu diesen Charakteren. „Sie haben den Dialog zwischen den Religionen sowie zwischen Gläubigen und Atheisten vorangetrieben. Dies alles haben Sie mit überaus großem Engagement und viel Herzblut geleistet“, dankte Roters dem Schriftsteller.

„Ich mache das, weil Du mir ein Freund bist.“
Er könne so etwas eigentlich nicht, mache das selten bis nie, stellte Fatih Akın seiner Laudatio eine Erläuterung voran, um sogleich die besondere Ausnahme zu begründen: „Ich mache das, weil Du mir ein Vorbild bist – und mein Freund.“ Die Rede des deutsch-türkischen Filmregisseurs war getragen von seiner sehr persönlichen Beziehung zum geehrten ausgebürgerten Türken mit deutschem Pass. Darin verknüpfte Akın gekonnt die Biographie Akhanlıs mit einer Charakterisierung seiner Persönlichkeit und Schilderung seiner wichtigen Themen und Fragen. Wie Georg Fritze sei auch Akhanlı „ein Vaterlandsverräter und ein Machtverächter, also ein guter Mensch“, so der gebürtige Hamburger, Jahrgang 1973.

Unverstellte Sicht auf den Holocaust
Mit seinem zunächst 1999 in türkischer Sprache erschienenen Roman „Die Richter des Jüngsten Gerichts“ habe Akhanlı als erster türkischer Schriftsteller vom Völkermord an den Armeniern berichtet, viele zum Nachdenken gebracht, zum Umdenken, zur Selbstbefragung. Zu diesem Zeitpunkt sei er wegen seiner staatskritischen Haltung bereits ausgebürgert gewesen. „Man mag keine Schriftsteller, die ihre Leser an Staatswahrheiten zweifeln lassen und sie als des Kaisers Lebenslügen nackt machen.“ Akhanlı habe sich zu einer klaren Sicht auf die Verbrechen an den Armeniern erst „durch den Lügenwald der türkischen Geschichtsschreibung hindurch“ schlagen müssen. „Ebenso hat Dogan sich zur unverstellten Sicht auf den Holocaust vorarbeiten müssen.“ Akhanlı, der sich auch mit dem Thema Identität, mit dem Problem der ganze Gesellschaften befallenden Massengewalt beschäftige, habe sich gefragt, was unsere Gewaltgeschichten miteinander zu tun hätten. Dabei sei ihm klar geworden, „dass diese Frage nur beantworten kann, wer mit dem Anderen in Kontakt tritt und sich mit ihm austauscht. Diese Erkenntnis wurde mehr und mehr zu seiner Handlungsmaxime.“

„Miteinander erinnern heißt, sich einander ausliefern“
Akhanlı stifte dieses „Miteinander“ von Menschen unterschiedlicher nationaler Herkunft, stifte Begegnung, Austausch und Dialog, Zuhören und Sprechen statt Schweigen, Verstehen statt Verurteilen, Mitfühlen statt Hassen, so Akin. „Mit Worten und Geduld, mit Blicken und Verständnis löst er Verklebungen in ihrer gegenseitigen vorurteilsbeladenen Wahrnehmung; er scheint über eine geheimnisvolle Arznei zu verfügen, die er über Verhärtungen träufelt und damit unter den Menschen die Bereitschaft zum Dialog freisetzt, die wohl bei niemandem je ganz unverschüttet ist.“ Akhanlı lasse in Begegnungen an seiner Wärme und Weichheit teilhaben, die auch mit seiner eigenen Geschichte zu tun habe. „Miteinander erinnern heißt, sich einander ausliefern und so die große Chance bekommen, schließlich einander zu verstehen.“ Akhanlı habe viele ermutigt, sich auf diesen Weg zu begeben, damit gesellschaftliche Diskurse in Gang gesetzt, Heilungen ermöglicht, sogar zwischen Opfern und Tätern.

Gebete für Akhanlı in der Antoniterkirche
„Wir brauchen einen transnationalen Gedächtnisraum“, hatte Doğan Akhanlı seine ausführliche Dankesrede betitelt. Bedächtig, mit leiser Stimme äußerte er seinen tiefempfundenen Dank für die mannigfaltige Hilfe, die ihm und seiner Familie in bedrückenden Lebenssituationen von verschiedenen Seiten zuteil geworden ist. Auch nach seiner Festnahme 2010 in Istanbul hätten viele ihre Stimme erhoben. „Mein Anwalt ist vor Glück fast in Ohnmacht gefallen, als er mir bei einem Besuch berichtete, dass Christinnen und Christen für mich in der Antoniterkirche gebetet haben.“

In seiner Dankesrede ließ Doğan Akhanlı seine Zuhörer an seinem Leben teilnehmen.
Militärgefängnis und Folter überlebt
„Dass die Solidarität mich aus dem Hassmaul der türkischen Willkür herausgeholt hat, war nicht das erste Glück, das ich erfahren durfte. Ich habe in den 70er Jahren den Bürgerkrieg in der Türkei überlebt. Ich habe in den 80er Jahren den Militärputsch, den Untergrund und das Militärgefängnis Metris überlebt. Ich habe auch die Folter, der ich gemeinsam mit meiner Frau und meinem Sohn ausgesetzt wurde, überlebt“, blickte er auf seine Biographie. Insgesamt waren seine Ausführungen geprägt von einer starken politischen Note, mit besonderem Augenmerk auf die zeithistorische wie gegenwärtige Situation in der Türkei und in Deutschland. Er berichtete von seiner Zeit als Flüchtlingsfamilie in einem Asylbewerberheim in Bergisch Gladbach: „Kurze Zeit nach unserem Einzug starben fünf Menschen bei einem Brandanschlag auf ein Zweifamilienhaus in Solingen. Es war unerträglich für uns, nach so langer Verfolgung im Herkunftsland weiter in einer bedrohlichen Situation leben zu müssen. Aber auf der anderen Seite war mir bewusst, dass wir in dieser WG einen Schutzraum erhalten hatten, der uns ermöglichte, unser Leben noch mal aufzubauen. Das gelang uns auch, im Laufe der Zeit.“ Später in Köln habe er zu schreiben begonnen, das habe sein Leben „völlig verändert". Er sei von einem überzeugten Aktivisten, der glaubte, er wisse Wesentliches über die Welt, zu einem Menschen geworden, der mehr Fragen als Antworten habe. So habe er schließlich entdeckt, „dass es zwischen der aktuellen Gewalt, von der wir als Familie getroffen waren, und der historischen Gewalt unseres Landes Verbindungen gibt".

Holocaust nicht nur deutsch-jüdisch, sondern international
Eines Tages sei er mit meiner Familie ins Kino gegangen, um den Film „Das Leben ist schön“ von Roberto Benigni zu sehen. „Nach dem Film war meine Tochter schockiert, das Leben sei überhaupt nicht schön. Aber die Eltern von unseren deutschen Mitbewohnern hätten doch bestimmt nicht mitgemacht! Und dann sagte sie ‚Gott sei Dank, dass wir keine Deutschen sind‘. Bis dahin verstand sie sich als Deutsche und plötzlich wollte sie keine mehr sein. Sie hatte in diesen Abgrund geblickt und wollte aus der deutschen Identität aussteigen. Da habe ich mich gefragt, was ist denn mit den deutschstämmigen Kindern? Wie können sie aus der deutschen Identität aussteigen? Und was passiert, wenn ich meinen Kindern vom Genozid an den Armenier erzähle, in welche Identität können sie dann flüchten?“ Durch deren Reaktionen sei ihm klargeworden, dass der Holocaust nicht nur eine deutsch-jüdische Geschichte, sondern eine internationale Geschichte sei.

Geschichtslos und handlungsunfähig
Schließlich berichtete er den Zuhörenden von einer Begebenheit, die ihn sehr verändert habe: „Nach meiner Reise zur Gedenkstätte Auschwitz habe ich meine sämtlichen Identitäten verloren. Ich habe nirgendwo so stark gespürt wie mitten in Birkenau, Täter und Opfer gleichzeitig zu sein. Dort sind Opfer und Täter in mir verschmolzen. Es war eine richtige Traumatisierung, die mich beinahe geschichtslos und handlungsunfähig machte. Aber ich bin doch kein Geschichtsloser geworden. Ich habe doch meine Handlungsfähigkeit nicht verloren. Ich musste allerdings meine Aufgabe, die ich mir selber gestellt habe, neu definieren."

Aktueller Film ein „transnationaler Erinnerungsraum“
„Die Beschäftigung mit dem Völkermord an den Armeniern ist keine Relativierung der Schoah“, betonte Akhanlı, „sondern eine Erweiterung und Vertiefung der deutschen Aufarbeitung, die nicht mehr deutsch bleiben sollte. Um die Zukunft zu gestalten, brauchen wir einen transnationalen Gedächtnisraum. Hier und überall.“ Einen solchen transnationalen Erinnerungsraum habe auch Fatih Akın mit seinem Film aktuellen Film „The Cut“ geschaffen, mit dem er den armenischen Genozidopfern ihre Stimme zurückgegeben habe.

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich