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Streetworker Franco Clemens, Natascha Telesio, Leiterin des Familienzentrums Am Kölnberg in Köln-Meschenich, Prof. Dr. Harald Rau, Dezernent, Bereich V Soziales, Stadt Köln, und Moderator Arnd Henze (v.l.).

Veranstaltung „WiederSprechen“: Mehr als 50 Gäste diskutieren mit Experten

„Ein Jahr Corona, Sportentzug, Schlafstörung, kontaktlos, kann meine vier Wände nicht mehr sehen“ – so beschreibt ein Teilnehmer der Veranstaltungsreihe „WiederSprechen“ seinen Alltag. Am Donnerstag, 15. April, haben sich mehr als 50 Menschen per Zoom bei „Ausgebrannt – Ein Jahr Corona in der Enge der eigenen 4 Wände“ zugeschaltet – und haben mehr als anderthalb Stunden mit den drei Experten diskutiert und Erfahrungen ausgetauscht. Prof. Dr. Harald Rau, Dezernent, Bereich V Soziales, Stadt Köln, Franco Clemens, Streetworker und Natascha Telesio, Leiterin des Familienzentrums Am Kölnberg in Köln-Meschenich, saßen in einem Raum – und hatten dementsprechend auch alle Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Moderator und Initiator Arnd Henze erklärte direkt zu Anfang des Diskussionsabends: „Wir halten den gebührenden Abstand zueinander ein, die Fenster sind geöffnet und alle haben vorher Schnelltests gemacht.“ Zudem trugen alle Masken – bis auf den Buchautor und Journalist Henze, der weitab von der Bühne stand.

„Köln ist eine Geisterstadt“

Henzes Wunsch nach intensivem Erfahrungsaustausch wurde erfüllt: Es gab eine rege Diskussion, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer tauschten ihre teils sehr unterschiedlichen Eindrücke aus und fragten auch kritisch bei den Experten nach. Eine Teilnehmerin berichtete: „Köln ist bereits eine Geisterstadt, es findet vor allem am Abend nichts mehr statt. Viele Menschen haben wenig Platz in ihren Wohnungen und leben auf engem Raum zusammen. Ich arbeite in Chorweiler, große Vereinsamung bei Seniorinnen und Senioren, Depressionen oder Aggressionen in Familien ohne Möglichkeiten, mal nach draußen zu gehen und Luft zu atmen.“

Ein Teilnehmer ergänzte im Chat: „Ich beobachte in meinem Wohnumfeld, dass manche (viele?) die gegebenen Bewegungsmöglichkeiten gar nicht nutzen. Ich wohne in Köln Pesch, also am nördlichen Stadtrand.“ Er fügte hinzu: „Meine Freundinnen und Freunde in Honduras und meine Verwandten in Kolumbien geht es so viel schlechter. Impfen ist dort in weiter Ferne. Wir müssen das Virus bekämpfen!“

Bühne für Erfahrungen

Auch über die Ausgangssperre diskutierten die Teilnehmerinnen und Teilnehme intensiv – das ist gewollt, sagte Joachim Ziefle, stellvertretender Leiter der Gastgeberin Melanchthon-Akademie: „Wir möchten den Bürgern die Möglichkeit bieten, über ihr Befinden in der Pandemie zu berichten.“ Arnd Henze erläuterte: „Wir wollten Formate finden, um nicht stumm zu bleiben in dieser schwierigen Zeit. Es ist hier aber keine Bühne für Hetze oder Parolen, sondern eine Bühne für die eigenen Erfahrungen.“

Ausgebranntsein und Bewegungsstau

So berichteten auch die Experten von ihren persönlichen Erfahrungen. Natascha Telesio, Leiterin des Familienzentrums Am Kölnberg in Köln-Meschenich, sagte: „Die Distanzierung von Kita und Eltern wird immer größer, auch wenn viel dagegen getan wird. Es ist etwas anderes, wenn man mit den Eltern gemeinsam an einem Tisch sitzt oder nur telefoniert.“ Sie erzählte von Ausgebranntsein, Bewegungsstau und vermehrten Aggressionen der Kinder. „Wir haben viel versucht, die Kinder zu erreichen, aber es ist ein Hin und Her der Gefühle. Man möchte die Kinder und Familien einladen, doch es ist Distanz da.“

Und auch Streetworker Franco Clemens, der mit Obdachlosen und jungen Erwachsenen arbeitet, berichtete: „Die Situation wird schwieriger, einige junge Erwachsene werden tatsächlich aggressiver.“ Wenn sich 50 bis 60 Jugendliche im Park ohne Maske träfen, und gegenüber stehe ein Geschäftsmann, dessen Boutique zu ist – „der wird sauer“. Clemens sagte: „Ich möchte die Jugendlichen lieber in einem hygienisch gesteuerten Raum sehen, als auf der freien Straße.“ Eine Teilnehmerin schrieb im Chat dazu: „Viele Jugendliche sind sich des Ernstes der Lage bewusst und bereit Beschränkungen hinzunehmen und ihren Beitrag zur Bekämpfung der Pandemie zu leisten, aber sie brauchen die Perspektive, dass sie wieder mit anderen zusammensein und ohne schlechtes Gewissen Freunde treffen können. Sie haben auch gute Ideen, wie man wieder sichere Treffen ermöglichen könnte. Es wäre sicherlich hilfreich, die Ideen der Jugendlichen mal abzufragen.“

Clemens berichtete aber auch, dass die Not bei den Obdachlosen am höchsten sei: „In Abfalleimern gibt es weniger Flaschen, auf dem Bettelmarkt bekommt man weniger, und die Möglichkeiten, auf die Toilette gehen zu können, sind weniger.“ Die Reaktion darauf von einer Teilnehmerin: „Danke Hr. Clemens und Fr. Telesio, ich teile ihre Einschätzungen. Die Pandemie verstärkt ungleiche Lebensverhältnisse der Menschen.“ Das sei auch bei den älteren Bürgern so, sagte ein Teilnehmer: „Senioren sind ganz schlecht zu erreichen, weil sie nicht online sind.“

Ausgangssperre wird diskutiert

Prof. Dr. Harald Rau, Dezernent, Bereich V Soziales, Stadt Köln, erklärte immer wieder den Spagat zwischen dem Schutz der körperlichen Gesundheit und der gleichzeitigen psychischen Verletzlichkeit durch Isolation: „Das ist ein widersprüchliches Denken, es gibt nicht den richtigen einfachen Weg. Egal, was man macht – macht man eine Sache etwas besser, macht man gleichzeitig eine andere etwas schlechter. Wir müssen ehrlich sein und diese Ambivalenz formulieren.“ Auch bei der vieldiskutierten Ausgangssperre sei dies so. „Hier hole ich mir viel Feindschaft ein.“ Er sprach aber auch immer wieder von der Not auf den Intensivstationen.

Clemens verwies hierbei direkt auf den Titel der Veranstaltungsreihe „WiederSprechen“ und sagte: „Ich halte Ausgangssperren für nicht zielführend und wir werden erleben, dass sich die jungen Menschen nicht daran halten wollen.“ Eine Ex-Obdachlose, die fünf Jahre auf der Straße gelebt hatte, fragte nach den Obdachlosen – und ob Denunziantentum gewollt sei. Rau entgegnete: „Wir wollen in Kontakt gehen – und dass Menschen aufeinander aufpassen. Es geht darum, durchzuhalten und hinterher die Belohnung zu erhalten und dann gemeinsam wieder anzufangen.“

„,Raum für Frust‘ hat gut getan“

Ein Fazit? Was nach der Veranstaltung bleibt, ist viel Verständnis. Eine Teilnehmerin schrieb: „,Raum für Frust‘ hat gut getan.“ Ein anderer ergänzte: „Herzlichen Dank an alle Rednerinnen und Redner sowie für die hervorragende Moderation. Ein ganz tolles Konzept für die Veranstaltung. Ich bin gespannt auf die Folgeveranstaltungen.“ Eine andere Teilnehmerin pflichtete bei: „Danke, dass man zu Wort kam.“

Die weiteren Termine:

Mittwoch, 5. Mai 2021, 19.30 Uhr- 21h
WiederSprechen
Bedroht: Wirtschaft, Gastgewerbe und Handel ziehen Bilanz
Gäste:
Dr. Ulrich Soénius – IHK Köln
Andreas Hupke, Stadtbürgermeister Innenstadt
Hans-Günter Grawe, Geschäftsführer / Handelskümmerer-Veedellieben e.V.
Anja Winkler, IG Dellbrücker Leben

27. Mai 2021, 19.30 Uhr- 21h
WiederSprechen
Vergessene Jugend: Corona und die Generation Z
Gäste:
Stefan Glaremin, Amt für Kinder, Jugend und Familie der Stadt Köln
Anja Veith-Grimm Schulleiterin Gymnasium Schauerte
Sabine Gresser-Ritter, Jugendleiterin der ev. Kirchengemeinde Altenberg-Schildgen

17. Juni 2021, 19.30 Uhr- 21h
WiederSprechen
“Abgesagt“ – Corona und die Kunst
Gäste:
Barbara Förster, Kulturamt der Stadt Köln -angefragt
Pit Hupperten, Bläck Föös
Wolf-Rüdiger Spieler, künstlerischer Leiter Trinitatiskirche, Chorleiter

Termine im Herbst 2021: 31. August, 14. September, 26. Oktober, 23. November

Anmeldung unter: anmeldung@melanchthon-akademie.de oder telefonisch unter 0221-931803-0, www.melanchthon-akademie.de

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