You are currently viewing „Unterm Strich geht’s um mich!“ hieß es im Altenberger Forum

„Unterm Strich geht’s um mich!“ hieß es im Altenberger Forum

Wird unsere Gesellschaft immer egoistischer? Sind immer weniger Menschen bereit, sich für andere zu engagieren? Gibt es immer mehr Nörgler und immer weniger Menschen, die auch Verantwortung übernehmen?

Protest ja – Verantwortung nein
Wieder einmal rückte das Altenberger Forum „Kirche und Politik“ einen aktuellen gesellschaftlichen Trend in den Blickpunkt. Unter dem Titel „Unterm Strich geht’s um mich! Protest ja – Verantwortung nein?“ ging es im Altenberger Martin-Luther-Haus am Vorabend des Buß- und Bettages um die Frage, ob und inwieweit die Balance zwischen individuellem Eigennutz und Einsatz für das Gemeinwohl gestört ist. Die Einschätzungen dazu fielen recht unterschiedlich aus. Von den Teilnehmenden der Gesprächsrunde – Jessica Gwosdz, Vorsitzende des Odenthaler Jugendparlaments, Rainer Deppe, CDU-Landtagsabgeordneter, Eckhard Rieger vom Vorstand des evangelisch-freikirchlichen Sozialwerks Wermelskirchen und Professor Armin Wildfeuer von der Katholischen Fachhochschule NRW – erhielt WDR-Moderator Tom Hegermann interessante und vielschichtige Antworten.

Macht und Einfluss der Politiker
„Frage nicht, was Dein Land für Dich tun kann, sondern frage, was Du für Dein Land tun kannst.“ Mit diesem gewichtigen Zitat des früheren US-Präsidenten John F. Kennedy eröffnete Hegermann die muntere Gesprächsrunde. Nach 50 Jahren habe dieses Zitat aber einiges an Patina angesetzt, „was für mich getan wird, steht immer mehr im Mittelpunkt“. Also doch eine Gesellschaft von Egoisten? Eckhard Rieger, der sich ehrenamtlich im Vorstand des Sozialwerks engagiert, hält die Frage, was man selbst von solch einem Engagement habe, für durchaus legitim. Oft stelle sich der individuelle „Mehrwert“ aber erst später heraus. „Viele der Ehrenamtler, die in unserem Jugendbegegnungszentrum aktiv sind, sammeln wichtige Erfahrungen im Umgang mit Menschen. In Kommunikations- und Rhetorik-Seminaren würden sie dafür viel Geld bezahlen.“ Rainer Deppe ist überzeugt, dass die meisten Politiker etwas für die Allgemeinheit erreichen, ja sogar verbessern wollen und nicht nur an Macht und Einfluss interessiert seien. „Warum tust Du Dir das denn an?“ Mit dieser Frage muss sich Jessica Gwosdz sehr oft auseinandersetzen. Als Vorsitzende des Jugendparlaments in Odenthal erlebt die junge Studentin oft die langsamen und vor allem mühseligen Mühlen des Politikalltages. „Das kostet sehr viel Freizeit, aber man muss sich doch einsetzen, wenn man etwas erreichen will.“

Egoistische Motive beim Ehrenamt?
Diese Einstellung teilen nicht wenige Menschen. „Etwa 23 Prozent der Bundesbürgerinnen und -bürger engagieren sich in irgendeiner Form“, erläuterte Professor Armin Wildfeuer. Geändert habe sich allerdings die Qualität des Ehrenamts. „Das ,alte Ehrenamt‘, in das man über die Familie hineinwächst, wie beispielsweise in der Freiwilligen Feuerwehr oder auch in den Kirchengemeinden, ist zurückgegangen. Dafür ist es verstärkt zu einem ,neuen Ehrenamt‘ gekommen, bei dem durchaus auch egoistische Motive eine Rolle spielen, das zeitlich begrenzter ist und oft einen Eventcharakter hat.“ Verändert hätten sich aber auch die strukturellen Voraussetzungen für das Ehrenamt, erläuterte der Hochschullehrer. In der zunehmenden Wohlstandsphase der 50er und 60er Jahren habe der Staat immer mehr betreuende Funktionen übernommen, die traditionellerweise bei den Familien verortet waren. Der „soziale Staat“ sei aber schon seit längerem an seine Grenzen gelangt, während das Selbstverständnis des „sich um andere kümmern“ zunehmend in den Familien nicht mehr verankert sei. „Freiheit und Verantwortung gehören zusammen“, unterstützte auch Rainer Deppe diese These. „Das ist doch Aufgabe des Staates“, sei ein vielfach geäußertes Argument, und dem „Ruf nach dem Staat“ begegne er mit der Forderung nach mehr Eigenverantwortung.

Ist die Jugend heute selbstsüchtiger?
Beim Wandel des Ehrenamts und seiner nachlassenden Bedeutung kam die Sprache auch unumgänglich auf den Nachwuchs, die Jugend. „Ist die Jugend heute egoistischer, selbstsüchtiger?“, fragte Hegermann provozierend. Doch die Podiumsgäste wollten die Jugendlichen nicht für die Entwicklung verantwortlich machen. „Die Gesellschaft als Ganzes ist egoistischer geworden“, entgegnete Rieger, und Jugendliche orientieren sich an Vorbildern. „Sie übernehmen nur das, was ihnen vorgelebt wird. Hier bedarf es einfach mehr Motivation. Wenn sich Jugendliche bei uns für andere Jugendliche engagieren, erleben wir einen großen Fortschritt in deren Entwicklung.“ Auch für Jessica Gwosdz spielen Erfolgserlebnisse eine wichtige Rolle. „Die aber müssen schnell kommen. Jugendliche wollen sehr bald Ergebnisse ihres Engagements sehen. Ansonsten verlieren sie das Interesse. Da das bei politischen Prozessen aber meistens sehr viel länger dauert, besteht unsere Arbeit im Jugendparlament zu einem Großteil darin, die Leute bei der Stange zu halten.“ Mangelndes Engagement mochte auch Armin Wildfeuer der Jugend nicht unterstellen. „Es ist vor allem eine Frage des Ziels und wie man es erreicht. Über ein hohes Maß an Engagement verfügt auch eine Jugendgang.“ Doch dieses Ziel, über den eigenen Nutzen hinaus einen Mehrwehrt für die Allgemeinheit zu erzielen, müsse wieder stärker betont werden. Hier sah Eckhard Rieger eine große Chance für Kirchengemeinden und andere Institutionen, einen Gegenpol zu setzen. „Die Kirche muss dahin gehen, wo sie gebraucht wird.“

„Durchgeknallt und therapiebedürftig“
Und das sei auch oft an den Schnittstellen zwischen Engagement und Protest der Fall. Die Bereitschaft, seine Meinung zu äußern, sich gegen scheinbare oder tatsächliche Fehlentwicklungen zu wehren, sei jedenfalls sehr ausgeprägt, stellten die Gesprächsteilnehmenden fest. Spätestens seit den Protesten gegen „Stuttgart 21“ und dem dabei entstandenen Bild vom „Wutbürger“ ist die Einschätzung dieses Engagements aber zwiespältig. „Ganz individuelle Interessen werden in vielen Fällen auch als Bürgerwillen verbrämt und instrumentalisiert“, sah Deppe die Entwicklung kritisch. Als Beispiel nannte er den Widerstand gegen Industrieansiedlungen, Umgehungsstraßen oder Nachtflugerlaubnis. „Es fehlt oft die Bereitschaft, die eigenen Interessen zugunsten eines Nutzens für die Allgemeinheit zurückzustellen.“ Armin Wildfeuer, der die Protestler gegen „Stuttgart 21“ in Teilen als „durchgeknallt und therapiebedürftig“ einstuft, kritisierte die oft zu emotionalen Auseinandersetzungen. „Diese Prozesse sollten auf einer rationalen Ebene unter Abwägung aller Vor- und Nachteile ablaufen.“ Allerdings gab es aus dem Publikum Widerspruch gegen die Haltung der beiden. Das individuelle Interesse, sich gegen eine neue Straße oder gegen Fluglärm zu engagieren, könne sehr wohl auch Sinn und Nutzen für die Allgemeinheit haben. Wichtig sei es auf jeden Fall, sich zu artikulieren, seine Meinung zu äußern und sich in die Entscheidungsprozesse einzumischen.

„Besinnung auf christliche Werte“
In dem Zusammenhang wurden auch die Medien kritisiert, nicht nur von Seiten des Publikums. „Unsere Gesellschaft wird durch die Medien geprägt, und die schüren den Egoismus“, stellte Eckhard Rieger fest. Für Professor Wildfeuer war das aber nur die eine Seite der Medaille. „Medien haben keinen Bildungsauftrag, sondern orientieren sich daran, wie sie am besten wahrgenommen werden. Somit liegt die Schuld auch bei den Rezipienten.“ Was also tun, wenn die Bereitschaft zu Engagement und Verantwortung nicht mehr in dem Maße ausgeprägt und erkennbar ist, wie das vielleicht noch vor einigen Jahren war? Jessica Gwosdz rief zu mehr Gemeinsinn auf. „Wir müssen alle an einem Strang ziehen, denn schließlich geht es um uns.“ Eckhard Rieger forderte eine „Rückbesinnung auf uns selbst“, während Rainer Deppe bewusst provokant eine „Rechristianisierung, eine Besinnung auf die christlichen Werte“ anregte. Armin Wildfeuer dagegen blieb pragmatisch: „Ich rate zu mehr Gelassenheit.“


Text: Jörg Fleischer
Foto(s): Jörg Fleischer