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Über die Erinnerung: In der Brühler Gesprächsreihe Kreuz und quer wurde diskutiert

„´Alte Kamellen´ – oder: Das Heil erinnern… ?!“ war die zweite Veranstaltung der ökumenischen Gesprächsreihe „Kreuz und quer…“ in Brühl überschrieben. Auf Einladung der Evangelischen Kirchengemeinde Brühl und der Pfarrgemeinde St. Margareta tauschten sich im evangelischen Gemeindezentrum am Mayersweg rund vierzig Christinnen und Christen zum Thema Erinnerung aus.

Funktionierende Ökumene: Kanzeltausch und Gesprächsreihe
Bereits die erste Veranstaltung von „Kreuz und quer…“ sei auf große Resonanz gestoßen, berichtete Pfarrerin Renate Gerhard. Gemeinsam mit ihrem katholischen Kollegen Dechant Thomas Iking hat sie die Gesprächsreihe „ausgeheckt“. „Nach gemeinsamen, gut angenommenen Gottesdiensten und auch einem ´Kanzeltausch´ am Reformations- und Allerheiligen-Tag 2004 haben wir uns, ermuntert durch zahlreiche Gemeindeglieder, gesagt: Es wäre schön, einander immer besser kennenzulernen, miteinander noch mehr ins Gespräch zu kommen. Wir möchten über Fragen unseres Glaubens in unserer Zeit diskutieren, über Fragen, die jetzt dran sind, als Christ in der Welt“, so die Mitinitiatorin. Man wolle den Schatz der eigenen Glaubenstraditionen und jeweiligen Lebenserfahrung miteinander teilen und dabei voneinander lernen.

Erinnerung: Von der Tradition der Heils-Geschichte  zu Persönlichem
Zu einem regen Austausch führte das Thema „Erinnerung“: Da wurde Grundsätzliches genauso angesprochen, wie private Rückblenden eingebracht und die Bedeutung von Erinnerung für die auf die Tradition der Heils-Geschichte gegründeten christlichen Kirchen in der heutigen Gesellschaft eingegangen. Gleichwohl wurde in den gut hundert Minuten nicht jeder aufgenommene Faden weiter gesponnen, nicht jeder Beitrag konnte kommentiert, nicht jede Frage beantwortet werden.
Iking hatte drei Thesen voraus geschickt. Zunächst könne man fragen, ob es überhaupt wichtig sei, sich zu erinnern. Zu wissen, wo man herkomme, sei wichtig, um sagen zu können, wo man stehe, wohin man möchte.
Zweitens gehe es nicht allein darum, ob, sondern was erinnert werde.
Dann sprach Iking das „Wie“ des Erinnerns an. Da gebe es die rein gedankliche Erinnerung. Aber auch weiter gehende Formen. Beispielsweise Feste und Feiern, etwa Geburtstage oder Feste im religiösen Raum wie die Feier der Eucharistie.

Kollektives und religiöses Erinnern
„Aber wie steht es um das kollektive Erinnern?“, fragte Gerhard und verwies beispielhaft auf die aktuellen Gedenkveranstaltungen zum Ende des Zweiten Weltkrieges vor 60 Jahren.  Auch gebe es nicht nur das kollektive Erinnern einer Nation, sondern auch einer Glaubensgemeinschaft wie in den Buchreligionen Christentum, Judentum und Islam. In deren (heiligen) Schriften sei die Heils-Geschichte festgehalten, das, was Menschen mit Gott erlebt hätten. „Daher: Erinnern geschieht nicht nur im Kopf, auch Gottesdienste sind Feiern des Erinnerns“, betonte Gerhard.
Die kollektive Erinnerung an die „Hitler-Zeit, an das Ende des Krieges“, so eine ältere Teilnehmerin, sei „manchmal ein bisschen wie ein Zwang“. Aber was bedeute das für unser Leben? „Die jungen Menschen werden immer mit Schuld konfrontiert, aber was ist die Lehre aus dieser kollektiven Eriunerung für sie? Man muss zukunftgerichtet heran gehen“, so ihre Überzeugung. 
Ein katholischer Teilnehmer berichtete von einem frühen Kindheitserlebnis. Als er 1941 fünf Jahre alt war, musste sein Vater an die Front. Die Angst der Kinder konnte die Mutter erfolgreich nehmen, indem sie sagte: „Wenn ihr Mariengebet abends betet, kommt Papa gesund wieder.“ Und: „Es war April 1945, da kam Vater wieder. Dieses Gebet hat mich bis heute geprägt“, erzählte der Teilnehmer.
Auch das „Vergessen“ und Wieder-Aufleben von Erinnerungen kam zur Sprache:. „Ich habe den Eindruck, dass gerade jetzt bei den Älteren frühe Dinge wieder erinnert werden“, meinte eine Teilnehmerin. „Sie kommen wie zwingend wieder hoch, als hätte man eine Quelle angebohrt.“ Eine Nachbarin stellte Entwicklung fest:  Das habe offenbar damit zu tun, dass die Generation der Kriegskinder sich jetzt, im Vergleich zu den Jahrzehnten vorher, erinnern dürfe und sich das auch traue. „Bei vielen alten Leuten kommt das jetzt raus.“
In diesem Zusammenhang fragte Gerhard, was es bedeute, sich nicht erinnern zu dürfen, nicht darüber sprechen, sich nicht mitteilen, nicht austauschen zu dürfen. „Das manifestiert sich auch in Krankheiten, von denen man lange nicht wusste, woher sie kommen.“ Dass Sprechen über Erlebtes und Erinnerungen, egal auf welcher Ebene und über welches Thema, habe etwas Befreiendes.

Olle Kamellen? Die sprachliche Vermittlung ist wichtig.
Wenn man über den Begriff Erinnern sinniere, ihn wörtlich nehme und assoziiere, komme man auf die Bedeutungen verinnerlichen, gegenwärtig machen, auch auf die Auslegung der Schrift. Aber was bedeute das speziell für eine Religion, die sich auf die Tradition einer Heils-Geschichte gründet? Wie diese Überlieferung einer modernen, schnelllebigen Gesellschaft vermitteln? „Da wird gefragt: Was hat Kirche mit uns zu tun, warum sich mit 2000 Jahre alten Überlieferungen beschäftigen? Oft hört man auch: Das sind doch olle Kamellen.“
Die Predigt, hat Gerhard insbesondere von Konfirmanden erfahren, empfinden junge Menschen oft als langweilig. Vielleicht liege es daran, dass das Emotionale, das Mitreißende in Predigten oft unterentwickelt sei. „Bei den jüngeren Menschen macht die Sprache einen Großteil aus“, warf eine Teilnehmerin ein. Es sei häufig die Sprache der Bibel, die abschrecke. „Aber die Sprache auf der Kanzel hat sich verändert“, widersprach eine andere Frau. „Wenn früher Dinge so anschaulich erläutert worden wären wie heute, hätte ich viel mehr Interesse am Gottesdienst gehabt – und viel mehr behalten.“
Sprache müsse auf den jeweiligen Zuhörerkreis abgestimmt sein, forderte ein Teilnehmer. Dies gelte auch für die Predigt, in der man sich viel mehr der Sprache der Bilder bedienen müsse, um Botschaften rüber zu bringen, etwa: „Wie hat Jesus das gemacht?“ Wir müssten seine Botschaft auf unseren Alltag „runterbrechen“, und dabei nicht nur das geistige, sondern auch emotionale Gehör ansprechen, forderten die Diskussionsteilnehmer. 
Der Hinweis auf die Verpackung sei natürlich wichtig, stimmte Iking zu. Aber mache die Botschaft den modernen Menschen inhaltlich froh oder müsse er feststellen, dass sie ihm gar nichts sage? Er müsse sie im Leben begründet finden, sie in sein Leben übersetzen können, forderte Iking. Gerhard ergänzte: „Die Vermittlung dürfe aber auf keinen Fall aufgesetzt wirken. „Wenn wir aus tiefstem Herzen davon überzeugt sind, dann können wir die Heils-Geschichte anderen vermitteln.“

Erinnerungen unterschiedlicher Intensität
„Macht es einen Unterschied, ob ich aufgefordert werde, etwas Positives oder Negatives zu erinnern?“ fragte Iking. Was bedeute es, wenn das Volk Israel im Alten Testament aufgefordert werde, die Erinnerung an ein Ereignis weiterzugeben, das ein Befreiungsereignis sei? Und welche Konsequenz hätte es, wenn eine Volksgemeinschaft kein positives, sondern ein Katastrophenereignis erinnere? Beispielsweise den Holocaust. „Es gibt Erinnerungen unterschiedlicher Intensität, an Natur, Menschen, wichtige Ereignisse“, sagte eine Teilnehmerin. „Daneben existieren Tausende von Alltäglichkeiten, die man irgendwo speichert, die sich aber nicht einprägen.“  Am Beispiel der heutigen Sicht auf die ehemalige DDR betonte sie den immensen Einfluss von gesteuerten politischen Strömungen auf das kollektive Erinnern. Und sie zitierte ihre Mutter, die angesichts der Dokumentationen über die Nazi-Zeit einmal gesagt habe: „Wir haben das damals ganz anders erlebt.“ Erinnerungen seien nicht unverrückbar, stellte sie fest.
Ein andedrer Teilnehmer sprach die Wandelbarkeit von Erinnerung an. „Wenn ich eine Geschichte zum 99. Mal erzähle, fällt sie natürlich ganz anders aus.“ Aber diese Erinnerung könne auch schön sein, selbst mit kleinen Unwahrheiten, Auslassungen und Hinzu-Dichtungen, zitierte er Jean Paul: „Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann.“
„Erinnerung funktioniert nur, wenn man selbst beteiligt ist“, sagte eine jüngere Teilnehmerin. Alles andere sei die Übernahme von Fakten. „Ich kann Erinnerungen anderer durch vergleichbare Erfahrungen nachvollziehen.“ Letztlich aber könne man beispielsweise die Befreiuung am Kriegsende nur erinnern, wenn man sie persönlich erlebt habe.

„Das Gute erinnern, sonst können wir nicht heil werden“
Man habe nun lange zumeist über negative Erinnerung gesprochen, bedauerte eine Teilnehmerin. „Aber wir müssen das Gute erinnern, sonst können wir nicht heil werden. Wir haben die Frohe Botschaft im Angebot.“
Man solle also dem Heil und der Freude mehr Gewicht geben. „Dass wir das Schlechte erinnern, ist nicht nur typisch für unsere Gesprächsrunde“, stellte Iking fest. „Erinnerung und Gedenken kann man nicht auseinander dividieren“, meinte eine Teilnehmerin. So frage sie sich manchmal bei Kindheitserinnerungen, ob sie die selbst erlebt habe, oder ob ihnen Erzählungen von Verwandten zugrunde lägen. „Das Schlimme tritt gegenüber dem Guten zurück“, schilderte sie eine wichtige Lebenserfahrung. Ihre schrecklichen Kriegserlebnisse seien zwar immer noch da, „aber sie belasten mich nicht mehr. Das Schöne bleibt“, sprach sie geradezu tröstende Worte.

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich